Ein imposantes modernes Gebäude mit viel Rot erhebt sich vor uns, die milde Morgensonne spiegelt sich in den großen Fensterflächen. Das Haus E wurde erst kürzlich eröffnet, die ersten Gruppen der Lebenshilfe Werkstätten der Region 10 GmbH in Ingolstadt sind hier bereits am Werk. In der Halle laufen Menschen mit und ohne Behinderungen betriebsam hin und her. Hier und da sieht man junge Männer in roten Fußballtrikots – Jugendspieler des FC Ingolstadt 04 sind zu Besuch, wie wir erfahren, die ihre sozialen Kompetenzen erweitern wollen. Hier sind wir mit unserer Gesprächspartnerin Julia Mech verabredet, die hier als Gruppenleiterin Menschen mit Einschränkungen betreut.
Ein herzliches Willkommen bei den Lebenshilfe Werkstätten
Doch zunächst werfen wir einen kurzen Blick in die Kerzenwerkstatt, wo behinderte und nicht behinderte Menschen gemeinsam Osterkerzen in frühlingshaftem Grün, Gelb und Orange herstellen, dann geht es über die zweigeteilte sanft ansteigende Rampe weiter in den ersten Stock.
In einem großen, hellen Gruppenraum erwartet uns auch Julia Mech. Jule, wie ihre Mitarbeiter*innen die Gruppenleiterin nennen, ist offen und herzlich, ihre Augen blitzen voller Energie, als sie uns die Menschen in ihrer Leichtmontage-Gruppe vorstellt.
Fröhliche Begrüßung, neugierige Blicke, eine Mitarbeiterin schüttelt uns die Hände und beäugt uns interessiert von Nahem. „Unsere Leute haben sich schon darauf gefreut, dass ihr heute kommt, um uns zu interviewen und zu fotografieren“, erklärt uns Julia. „Wir können gleich loslegen!“
„Ich wollte immer mit besonderen Menschen arbeiten“
ver.di: Julia, du arbeitest seit neun Jahren in den Lebenshilfe Werkstätten, wie war dein Weg hierher?
Julia Mech: Ich habe schon als Kind gemerkt, dass mich Menschen anziehen, die besonders sind. Schon seit der Grundschule habe ich mich mit denen umgeben, die nicht der Norm entsprachen, die sich anders kleideten oder gemobbt wurden. Ich mache keine Unterschiede. Später habe ich mich ehrenamtlich für außergewöhnliche Menschen eingesetzt.
Nach dem Schulabschluss habe ich zuerst eine Ausbildung im medizinischen Bereich gemacht, aber mit Mitte zwanzig wollte ich mich umorientieren. Ich habe nach einem Beruf gesucht, in dem ich das, was ich gut kann – mit Menschen umgehen –, viel stärker einbringen kann. Als ich 2010 die Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin hier in der Lebenshilfe anfing, habe ich gemerkt: Das ist genau mein Ding! Und bin geblieben …
Als Heilerziehungspflegerin ist es meine Aufgabe, Menschen zu begleiten, zu fördern und zu unterstützen
ver.di: Heilerziehungspfleger*innen stehen viele verschiedene Bereiche offen. Warum hast du dich für die Arbeit mit behinderten Menschen entschieden?
Julia Mech: Mir ist Inklusion sehr wichtig. Menschen mit Behinderung haben die gleichen Rechte wie wir alle. Ich möchte, dass sie selbstbestimmt leben und selbst entscheiden können – zum Beispiel ob sie von euch fotografiert werden möchte. Leider wird das den Leuten oft nicht zugetraut, und dann entsteht eine Hierarchie. Außerdem macht mir die Arbeit einfach Spaß. Menschen mit Behinderung sind oft sehr ehrlich und direkt. Man bekommt das zurück, was man den ganzen Tag über gibt.
ver.di: Was machst du als Gruppenleiterin in der Leichtmontage genau?
Julia Mech: Hier in meiner Gruppe fertigen wir Teile für die Autoindustrie. Ich leite momentan neun Menschen zwischen 26 und – Rainer, wie alt bist du? 54! – 54 Jahren mit mittelgradigen bis schweren Behinderungen an. Alle haben eine Intelligenzminderung, also eine geistige Behinderung, oft in Kombination mit einer körperlichen.
Meine Aufgabe ist es, diese Menschen zu begleiten, zu fördern und zu unterstützen, ich assistiere und pflege sie. Die Orientierung im Alltag geben meine Herrschaften hier. Ich zeige nur auf, was man besser oder anders machen kann. Die Leute sehen mich manchmal als Chefin, was ich gar nicht mag. Ich sage immer: Ich bin nicht eure Chefin, ich bin eure Begleiterin. Bei der Arbeit unterstützt mich Kilian, unser Auszubildender.
Durch Struktur Orientierung geben
ver.di: Wie sieht ein typischer Tag bei euch aus?
Julia Mech: Ich komme morgens um 7 Uhr und bereite den Tag vor. Wenn die Leute bis 8.15 Uhr eintrudeln, setzen wir uns im Morgenkreis zusammen. Wir schauen, wie es jedem oder jeder geht, besprechen, was für wen heute ansteht und visualisieren das in einem Tagesplan an der Wand. Es geht um Dinge wie: Welchen Wochentag, welches Datum, welche Jahreszeit haben wir? Was gibt der Speiseplan heute her, wer möchte was essen? Das ist unser Ritual in der Gruppengemeinschaft. Durch diese Struktur geben wir Orientierung. Wir arbeiten nach dem TEACCH-Ansatz, einer pädagogischen Strukturierung, mit deren Hilfe die Leute lernen, ihren Tag selbstbestimmter zu organisieren.
ver.di: Auf dem Tagesplan sehe ich auch deinen Namen und den von Kilian.
Julia Mech: Mitarbeiter*innen und Begleiter*innen sind hier gleich gestellt. Jede*r trägt seine Sachen ein und jede*r weiß, was den anderen los ist. Ich habe meinen Leuten zum Beispiel erklärt, dass ihr von ver.di heute kommt, um mich zu interviewen und Fotos zu machen. Wir tragen hier natürlich die Arbeit ein, aber jede*r sucht sich auch selbst etwas aus. Claudia hier hat heute zum Beispiel Laufübungen. (Claudia schreit im Werkraum begeistert auf, als sie ihren Namen hört.)
„Ich habe die Möglichkeit, neue pädagogische Ansätze auszuprobieren“
Dabei arbeiten wir mit der sogenannten Unterstützten Kommunikation – ein Ansatz, den ich nach einer entsprechenden Weiterbildung hier ins Rollen gebracht habe. Damit auch die, die Schwierigkeiten mit der Lautsprache haben oder nicht lesen können, alles verstehen und sich orientieren können, verwenden wir Bilder und Symbole aus dem Metacom-Symbolsystem, das ist eine Art Symbol-Sprache.
Außerdem besprechen wir im Morgenkreis jeden Tag einen aktuellen Zeitungsartikel. Meine Leute sind sehr wissbegierig. Wir schauen, was an jedem Tag wichtig in der Welt ist, jede*r darf sich auch eigene Themen überlegen, die ihn oder sie interessieren. Das kann das Thema „Autounfall“ sein oder wir reden darüber, wie Wahlen funktionieren, wenn welche anstehen.
ver.di: Das hört sich nach einem idealen Tagesanfang inklusive Zeitungslektüre an. Und dann geht es an die Arbeit?
Julia Mech: Wir richten zuerst alle zusammen die Arbeitsplätze her. Die Mitarbeiter machen so viel wie möglich selbst, wir geben nur punktuelle Hilfestellung. Nach dem Frühstück geht es los mit Arbeit oder Einzelförderung. In der Leichtmontage setzen die Leute Teile für die Autoindustrie zusammen, etwa Schlossgaragen für den Kofferraum oder Federteller für Stoßdämpfer. Wir haben eine sehr moderate Produktionsvorgabe, denn die Leute hier sind körperlich und kognitiv schwächer. Wir Begleiter*innen zeigen ihnen, auf was sie achten müssen, zum Beispiel wie sie ihren Arbeitsplatz effizient einrichten, dass sie am besten von links nach rechts arbeiten, wie sie in einer ergonomischen Haltung sitzen, wie sie sich am besten bewegen. Das sind für uns Kleinigkeiten, aber für die Menschen mit körperlichen Behinderungen ist das wichtig, weil sie sowieso schon beeinträchtigt sind. Wenn man das Tag für Tag so durchführt, werden sie selbstständiger in ihrem Tun. Wenn wir fertig sind, räumen wir zusammen auf. Dann ist Mittagspause und jede*r geht da essen, wo sie oder er möchte.
„Menschen mit Einschränkungen müssen sichtbar werden!“
ver.di: Wie geht es nach dem Mittagessen weiter, wenn alle satt sind?
Julia Mech: Im Stuhlkreis besprechen wir den Nachmittag und schauen, auf was die Leute Lust haben. Jetzt geht es um Förderung und Stärkung der lebenspraktischen Fähigkeiten in allen Bereichen. Das geht los beim Kochen und Backen über Spazierengehen oder Entspannung bis hin zum Einkaufen. Es ist mir ganz wichtig, dass die Menschen an der Gesellschaft teilnehmen. Die Leute müssen gesehen werden – nur wenn sie immer wieder sichtbar sind, gelten sie irgendwann als „normal“.
Dazu leistet auch die Bewegungsförderung einen Beitrag: Die Leute neigen dazu, in sich zusammenzusacken, weil sie wenig Selbstbewusstsein haben, sie machen sich körperlich klein. Ich will aber, dass sie sich groß machen, dass sie auch mal Nein sagen, dass sie sagen: Hier bin ich, Gesellschaft! Ich wirke vielleicht etwas anders oder eigen auf dich, aber du vielleicht auch auf mich. Nur so funktionieren Inklusion und Teilhabe! Auf Augenhöhe!
ver.di: Wie kann ich mir die Einzelförderung vorstellen?
Julia Mech: Bei manchen geht es zum Beispiel darum, die Orientierung zu stärken, besonders nach unserem Umzug ins neue Haus. Durch Symbole und Bilder an den Räumen finden sich die Leute besser zurecht und brauchen nach und nach weniger Begleitung. Mit Einzelnen setze ich mich konzentriert hin, damit sie die Symbole assoziieren lernen. Wer Bewegungsförderung braucht, mit dem oder der machen wir Übungen mit dem Deckenlifter oder wir gehen in unserem eigenen Hallenbad schwimmen. Im Rahmen der Förderplanung beziehen wir auch die Eltern und Betreuer ein, um herauszufinden, was der- oder diejenige braucht und was er oder sie lernen will.
Viel wichtiger als die Ziele aus der Förderplanung ist mir, was die Menschen selbst wollen. Manche möchten Englisch lernen. Andere wollen besser mit Zahlen umgehen können, um beim Einkaufen klarzukommen. Dafür gehen wir mit der Gruppe in den Supermarkt und sie lernen, beim Bezahlen mit Wechselgeld umzugehen. Ich bringe den Leuten auch bei, sich nicht entmutigen zu lassen, wenn sie an der Kasse länger brauchen und andere in der Schlange sich aufregen. Da setzt der Beruf der Heilerziehungspfleger*in an.
Auswirkungen des Corona-Virus auf die tägliche Arbeit:
Aktuell, bis mind. 01. Juli 2020, sind die Förderstätten in Bayern geschlossen. Das Betretungsverbot für die Mitarbeiter in den Werkstätten wurde erst am 15. Juni aufgehoben. Das hat zur Folge, dass in der Gruppe von Julia Mech derzeit nur drei von neun Mitarbeiter*innen in der Arbeit sind bzw. sein können.
Die Themen „Abstands- und Hygieneregeln“ bestimmen den pädagogischen Alltag. Das Tragen von Mund-Nase-Masken beeinträchtigt die so wichtige Kommunikation. Arbeitsplätze wurden neu eingerichtet, um den Sicherheitsabstand zu gewährleisten und wo nötig, transparente Schutzwände installiert. Alle Arbeitsplätze, Vorrichtungen und Werkzeuge müssen nun zweimal täglich von Julia Mech desinfiziert werden. Wenn Begleitung von Toilettengängen oder sonstigen pflegerische Maßnahmen notwendig ist, müssen Julia Mech und ihre Kolleg*innen eine Ganzkörperschutzkleidung, ein Haarnetz, eine Mund-Nase-Maske sowie einen Gesichtsschutz tragen, der danach desinfiziert werden muss. Alles andere wird nach einmaliger Verwendung entsorgt.
Julia Mech thematisiert täglich mit ihren Mitarbeiter*innen das Thema „Corona“ und sensibilisiert für die Auswirkungen, die Symptome und die Notwendigkeit der Abstands- und Hygieneregeln. Ihr ist es wichtig, den Mitarbeiter*innen Ängste zu nehmen und Widerstände erst gar nicht aufkommen zu lassen. Durch die Einhaltung dieser Regeln ist derzeit keine konkrete Einzelförderung möglich, auch fällt das selbstständige Mittagessenholen an der Theke für die Mitarbeiter*innen weg.
Kurz: Die Auswirkungen für Menschen mit Behinderung und das Personal in den Einrichtungen der Behindertenhilfe sind einschneidend.
„Mir ist es wichtig, dass sich der soziale Bereich für Neues öffnet“
ver.di: Claudia konnte ich am Anfang schlecht verstehen, aber mithilfe ihres Talkers, einer Art Sprachcomputer, konnten wir uns unterhalten. Gehört das auch zur „Unterstützten Kommunikation“?
Julia Mech: Der Talker ist ein ganz tolles Gerät, damit können Menschen, die nicht oder sehr undeutlich sprechen, mit anderen Menschen kommunizieren. Die Tasten sind mit Symbolen, Fotos oder gesprochener Sprache hinterlegt. So kann man seinem Gegenüber mitteilen, wie man heißt, was man macht, wie man sich gerade fühlt, ob er oder sie noch mehr essen möchte und allgemein etwas über sich erzählen. Außerdem ganz wichtig: Sprachbehinderte Menschen können damit in den Dialog treten. Wie heißt du? Wie geht es dir? Was machst du? Über den Talker können sie sich auch informieren und orientieren – es ist wie ein kleines Internet. Wir können den Tagesablauf einer Person einprogrammieren, welche Arbeit sie macht und Bilder von unseren Ausflügen einfügen. Wir schauen regelmäßig, was dem Menschen wichtig ist und programmieren das Gerät entsprechend um. Das ist natürlich sehr, sehr aufwendig und kostet Zeit.
verdi: Du hast gesagt, du hast bei euch den Ansatz der „Unterstützten Kommunikation“ eingeführt. Von anderen im sozialen Bereich weiß ich, dass Neuerungen erst mal oft abgelehnt werden …?
Julia Mech: Diese Erfahrung habe ich auch gemacht. Die sozialen Berufe sind leider oft ein bisschen hintendran. Uns fehlt diese Kultur von Innovation und Wandel wie zum Beispiel im IT-Bereich. Wir sprechen immer von interdisziplinären Teams, aber wenn dann junge Fachkräfte mit Spezialwissen in ein vorhandenes Team kommen und etwas verändern wollen, führt das oft zu Konflikten.
Das liegt natürlich auch an der hohen Arbeitsbelastung durch den Personalmangel, da versucht man, so effizient wie möglich zu arbeiten. Sich an etwas Neues zu gewöhnen, erfordert Energie und bedeutet erstmal Mehrarbeit. Die Unterstützte Kommunikation ist ein gutes Beispiel dafür. Ich muss die Kolleg*innen erst einweisen und ihnen beibringen, wie das System funktioniert oder man ein Gerät einrichtet. Wenn man einmal weiß, wie es geht, geht es schnell, aber bis es erst mal so weit ist … Mir ist es ein großes Anliegen, dass der soziale Bereich sich für Neues öffnet und Veränderung zulässt, dafür brauchen wir eine neue Führungskultur. Bei meinem Arbeitgeber bin ich da sehr optimistisch, das wird passieren.
Soziale Arbeit: bessere Qualität der Arbeit durch mehr Personal
ver.di: Ihr seid zwei Betreuende – Ich kann mir gerade nicht so recht vorstellen, wie ihr das schafft …
Julia Mech: Wenn ich Einzelförderung mache, bräuchten wir eigentlich eine dritte Betreuungsperson, um wirklich effizient arbeiten zu können. Es ist auch zu zweit irgendwie machbar, aber man muss aufpassen, dass mit der Zeit die Energie nicht verloren geht. Denn so schön die Arbeit mit Menschen mit Behinderung ist, so kräftezehrend ist sie auch. Wir haben hier viel zu tun, dann klingelt das Telefon, man muss sich um Dokumentation kümmern usw. Dazu kommt, dass wir geteilte Pausen haben, morgens 20, mittags 22 Minuten. In größeren Teams kann man das so organisieren, dass jeder mal eine lange Pause hat – ich brauche das, um mal abzuschalten und meine Resilienz zu erhalten.
verdi: Was für Auswirkungen hat die meist dünne Personaldecke in deinem Beruf auf die Arbeit mit den behinderten Menschen?
Julia Mech: Man priorisiert ganz hart und läuft dabei Gefahr, sich auf das absolut Nötigste zu beschränken; das, was gemacht werden muss. Dabei ist unser Job ja viel mehr, nämlich die Leute zu stärken und zu fördern. Die Kommunikation leidet oftmals am meisten, man hat keine Zeit mehr für Gespräche. Dann verfehlt unsere Arbeit ihr Ziel: Wir arbeiten mit Menschen und der Mensch ist das wertvollste Gut.
Zum Glück haben wir für unser Team eine moderate Produktionsvorgabe und können sehr darauf achten, dass es den Leuten gut geht, und uns uns Zeit für ihre Bedürfnisse nehmen. Aber ich kenne andere Rahmenbedingungen von anderen Werkstätten. Bei einem Betreuungsschlüssel von 1:12, also wenn eine einzige Person zwölf Mitarbeiter*innen in der Produktion betreut, ist der Druck höher. Und vielleicht ist diese Betreuungskraft dann noch nicht mal pädagogisch oder psychologisch geschult und weiß nicht, wie sie mit den Menschen umgehen soll. Bei dem Verhältnis kann man sowieso nicht spontan entscheiden mit jemandem eine Runde spazierenzugehen, da es die zeitliche und personelle Einteilung oft nicht zulässt.
verdi: Ihr in eurer Gruppe habt wenige Vorgaben und viel Freiheit. Das bringt auch viel Verantwortung mit sich …
Julia Mech: Wir tragen in der Tat sehr viel Verantwortung hier. Wir betreuen nicht nur neun Menschen mit mittelschweren bis schweren Behinderungen über den ganzen Tag, sondern wir haben auch pflegerischen und pädagogischen Aufwand und leisten viel individuelle Förderung. Deswegen ist es auch so wichtig, qualifizierte Fachkräfte zu haben. Nur wenn man selbst ein gewisses Know-how hat, kann man gut und effizient mit den Menschen arbeiten.
„Ich hatte das Gefühl, dass ich zu viel Engagement in meine Arbeit stecke und zu wenig zurückbekomme“
verdi: Du und deine Kolleg*innen, bekommt ihr die angemessene Wertschätzung für eure anspruchsvolle Arbeit?
Julia Mech: Finanziell gesehen leider nicht und deshalb hatte ich vor einiger Zeit eine Gratifikationskrise. Ich hatte das Gefühl, dass ich so viel Engagement in meine Arbeit stecke und zu wenig zurückbekomme – da entsteht eine Schräglage. Wir werden hier zwar nach TVöD bezahlt. Aber wir Gruppenleiter*innen in den Werkstätten sind in S 7 eingeordnet und das finde ich nicht angemessen für die qualifizierte Arbeit, die wir hier leisten. Leider ist der Tarifvertrag da nicht eindeutig. Es müsste schwarz auf weiß festgelegt werden, dass Gruppenleiter*innen – zumindest die mit schwierigen Fällen wie bei uns – in S 8b eingeordnet werden. Mein Arbeitgeber ist dem auch nicht abgeneigt. Wenn das im TVöD entsprechend geändert werden würde, würde er uns besser bezahlen. Deshalb kämpfe ich jetzt auch für tarifvertragliche Verbesserungen. Ich rechne unserem Geschäftsführer Herrn Koch hoch an, dass er mich bei diesem Anliegen unterstützt und gleich sein Einverständnis zu unserem Gepräch gegeben hat.
verdi: Bei einer besseren Bezahlung wäre der Fachkräftemangel wahrscheinlich nicht so ein Problem …
Julia Mech: Genau. Wir suchen händeringend Gruppenleiter*innen in den Werkstätten und Wohnheimen, aber viele offene Stellen können lange nicht besetzt werden. Wir hatten öfter Heilerziehungspfleger*innen zum Probearbeiten da, die dann nicht mehr kamen, weil vor allem die finanziellen Rahmenbedingungen nicht passen. Natürlich sind monetäre Anreize nicht alles, aber gerade für junge Leute und in einer Stadt wie Ingolstadt, wo die Mieten exorbitant hoch sind, ist das nun mal die Basis.
Die finanziellen Rahmenbedingungen passen nicht zum Job
verdi: Abgesehen von der Bezahlung: Wie sieht es mit den anderen Arbeitsbedingungen bei euch aus?
Julia Bech: Hier passt schon vieles. Unser neues Haus ist super ausgestattet: Wir haben großzügige Gruppenräume und Waschräume mit Deckenliftern, einen Gymnastikraum und andere Dinge, die die Arbeit für das Personal enorm erleichtern. Dann bietet die Lebenshilfe kostenlose Gesundheitskurse für uns an, es gibt gratis Obst und wir haben eigene Ruheräume. Mein Arbeitgeber hat auch die Kosten für meine Fortbildung zur Fachkraft für Unterstützte Kommunikation übernommen, das ist natürlich toll. Was mir besonders wichtig ist: Wir sind ein großer Träger, bei dem man viele Aufstiegsmöglichkeiten hat. Das ist besonders für junge Leute sehr interessant, damit könnte man viel stärker werben. Aber natürlich kann man in unserem Berufsfeld noch so viel mehr machen: mehr Weiterbildungen für ganze Teams, Resilienztrainings, Teambildungsmaßnahmen und Supervisionen etwa sollten eine Selbstverständlichkeit werden, damit die Arbeitskraft des Personals auf Dauer erhalten bleibt.
verdi: Apropos Aufstiegsmöglichkeiten: Du studierst seit zwei Jahren berufsbegleitend Sozialpädagogik und Management an einer Fachhochschule in Bamberg – warum hast du dich dafür entschieden?
Julia Mech: Erstens ist mir Weiterentwicklung sehr wichtig, ich bilde mich regelmäßig weiter. Zweitens studiere ich für einen besseren Lohn – meine Weiterbildungen haben mich da leider bisher nicht vorangebracht. Ein anderer Abschluss bedeutet eine andere Eingruppierung und damit eine höhere Bezahlung. Drittens möchte ich mehr mitbestimmen können, was mir als Gruppenleiterin so nicht möglich ist. In einer besseren Position kann ich für die Rechte von Behinderten kämpfen und die personelle Organisation mitgestalten. Denn das Personal ist es ja, das mit den Menschen mit Behinderungen arbeitet – das ist der Ansatzpunkt, um die gesellschaftliche Perspektive zu verändern. Aber auch wenn ich später in einer anderen Position arbeite, werde ich weiter dafür kämpfen, dass die Gruppenleiter*innen adäquat bezahlt werden.
„Ich glaube fest daran, dass wir gemeinsam etwas verändern können“
verdi: Daneben bist du auch in der Gewerkschaft aktiv …
Julia Mech: Ich bin seit einigen Jahren dabei und mache bei den Aktiven-Treffen innerhalb der Lebenshilfe mit. Wir sprechen viel mit ver.di vor Ort: Wie können wir weitermachen? Wie können wir unseren Beruf aufwerten? Was können wir mit unserem Arbeitgeber verbessern? Ich glaube fest daran, dass wir gemeinsam etwas verändern können. Nur reicht es nicht, wenn sich ein paar Leute engagieren. Wir müssen alle zusammenhalten und gemeinsam sagen: Das geht nicht! Wenn es nach mir ginge, wären viel mehr Leute gewerkschaftlich organisiert.
verdi: Eine Frage zum Schluss: Wie kriegst du Arbeit, Studium und Gewerkschaftsarbeit unter einen Hut?
Julia Mech: Das frage ich mich auch manchmal! Offiziell bin ich auf 35 Stunden runtergegangen, aber ich bin in der Regel Vollzeit da. So arbeite ich Stunden rein, die ich dann als Gleitzeit für das Studium wieder freinehme. Das funktioniert hier in meinem Team sehr gut, meine Vorgesetzte ist sehr kulant und von meinem Arbeitgeber bekomme ich sogar ein paar Stunden gutgeschrieben. Meine Arbeit mit den behinderten Menschen leidet darunter aber nicht, das ist mir sehr wichtig.
ver.di: Danke, liebe Julia, dass ihr uns so nett in eure Gruppe aufgenommen und euch so viel Zeit für uns genommen habt!
Das Interview für ver.di führte Nadine Landeck.
Alle Bilder in diesem Porträt sind von Kerstin Müller.
Ich finde den Beruf so toll! Ich kann mir gut vorstellen, dass durch die Prioritäten die Kommunikation oftmals zu kurz kommt. Meine Oma hatte denselben Beruf und ich habe auch den Wunsch nach meinem FSJ an einer passenden Schule eine Ausbildung zu beginnen.