Streikende Beschäftigte zum Prime Day im Amazon-Versandzentrum Graben im Juli 2023

Franka ist seit einigen Jahren im Amazon-Versandzentrum Graben bei Augsburg beschäftigt. Als Pickerin besteht ihre Arbeit darin, die Bestellungen der Kunden zusammenzustellen. Dazu sucht sie im Lager die Artikel aus den Regalen zusammen. Hauptwerkzeuge ihrer Arbeit sind der Cart, ein Wagen mit Drehstapelbehältern, in dem die Produkte gesammelt werden, und ein Scanner.

Margarethe ist im Inventur- und Qualitätsmanagement. Sie überprüft, ob sich in den Regalfächern tatsächlich auch die Produkte befinden, die im System verzeichnet sind. Mit beiden konnten wir über ihre Arbeit bei dem berüchtigten Versandgroßhändler, vor allem im Pandemiejahr 2020, sprechen.

Amazon-Versandcenter: groß wie 16 Fußballfelder
Streiks zum Prime Day 2023 in Versandzentrum Graben

ver.di: Wie kann man sich das Lager und die Arbeit darin vorstellen? Ich habe riesige Hallen mit ewig langen Gängen und mit meterhohen Regalen im Kopf.

Franka: Stell dir eine Halle vor, so groß wie 16 Fußballfelder, also riesig! Das Fulfillment Center ist unterteilt in viele einzelne Abteilungen und Bereiche. In der Mitte gibt es einen Turm, den Pick-Tower. Vielleicht kennst du das Gebäude von manchen Streikbildern. Die ersten Hallen sind in etwa so, wie du es dir wahrscheinlich vorstellst: einstöckig, weitläufig. Das sind zum Beispiel Palettenlager. Hier fahren Flurförderfahrzeuge, also Gabelstapler.

Der Pick-Tower geht über zwei Stockwerke, ist aber in sich verwinkelt. Es gibt Zwischenböden, die Regalreihen gehen deswegen über vier Stockwerke. Die Decken sind hier so niedrig, dass große Menschen aufpassen müssen, nicht an die Lampen zu stoßen. Die Regale sind entsprechend gerade so hoch, dass man mit durchschnittlicher Größe ans oberste Fach gerade noch so drankommt. Die meisten nutzen Tritthocker.

20 Kilometer am Tag: keine Seltenheit bei Amazon-Pickern

ver.di: Was für eine Strecke legst du denn in diesem riesigen Gebäude an einem Tag so zurück?

Franka: An einem „normalen“ Arbeitstag lege ich um die 18.000 Schritte zurück. So komme ich auf 10 Kilometer und mehr. Normalerweise fängt die Woche montags noch relativ harmlos an. Zum Wochenende hin werden die Schichten anstrengender. Es gibt Tage, da sind es an die 30.000 Schritte. Das sind dann gut 20 Kilometer. Da bist du dann wirklich ganz schön kaputt. Wie viel ich laufe an einem Tag, hängt von den Pick-Pfaden ab, also von den Aufträgen, die ich über den Scanner reinbekomme. 


Ich messe meine Schritte neuerdings mit einer App. – Seit Beginn der Pandemie dürfen wir die Handys mit hineinnehmen. Normalerweise ist das nicht erlaubt.

ver.di: Kurzer Einschub: Warum durftet ihr die Mobiltelefone nicht mitnehmen?   

Franka: Offiziell heißt es, wir kämen unserer Arbeit nicht nach, wenn wir mit dem Handy rumspielen. Ich vermute aber noch viel eher, dass es nicht gewollt ist, dass Beschäftigte Interna nach außen tragen. Es ist ziemlich klar, dass Amazon über sein Außenbild unbedingt die Kontrolle behalten möchte. In Corona-Zeiten ist so eine Regelung natürlich schwierig. Denn was passiert, wenn jemand im Umfeld, das Kind, eine positive Diagnose erhält und man den ganzen Tag über nicht erreichbar ist? Der Betriebsrat hat erkämpft, dass wir die Handys unter diesen Umständen mit hineinnehmen dürfen

Der Preis für Sonderarbeitszeitmodelle ist hoch …
Streikende vor dem Amazon-Standort in Winsen 2023. Die Standorte sehen alle sehr ähnlich aus.

ver.di: Es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein – nicht nur in der Pandemie -, dass man in Notfällen erreichbar ist. Wie viele Menschen arbeiten denn bei euch am Standort und was für Schichten habt ihr?

Franka: Wir sind in Graben um die 1900 Beschäftigte. Vor der Pandemie gab es eine Wechselschicht, die aus Früh- und Spätschicht bestand, und eine sehr abgeschwächte Nachtschicht. Standard für die allermeisten ist die Wechselschicht.

Ich selbst arbeite seit einiger Zeit nur noch in der Frühschicht. Aus familiären Gründen bin ich darauf angewiesen. Zu Beginn gab es diese Möglichkeit nicht. Diese zusätzlichen Schichtmodelle gibt es erst seit der Betriebsratsgründung und auch dank der Unterstützung durch ver.di. 

Amazon macht es einem nicht leicht, wenn man diese Möglichkeit in Anspruch nimmt. Zwar ist es zum Beispiel für Mütter jetzt möglich, in Teilzeit zu arbeiten und ausschließlich in der Frühschicht – aber es muss jedes Jahr aufs Neue beantragt und begründet werden, dass man keine Betreuung hat. Diese bürokratische Prozedur wird jedes Jahr wiederholt. Ähnlich ist es bei denen, die wegen ihres Gesundheitszustandes nicht mehr in Wechselschicht arbeiten können. Sie brauchen für die Beantragung eine Genehmigung vom Betriebsarzt und müssen sich ebenfalls jedes Jahr wieder nackig machen. Immer wieder gibt es bei Einzelnen Ärger in diesem Prozess, dann muss der Betriebsrat eingreifen.

Der Haken ist: Wenn man aus dem Schichtsystem raus ist, verliert man meist die interessanteren, spezielleren Tätigkeiten, die man vielleicht vorher schon gemacht hat. Ich hatte vorher abwechslungsreichere Aufgaben, die mir mehr Spaß gemacht haben. Seit ich nur noch in der Frühschicht arbeite, bekomme ich solche Aufgaben nicht mehr. Ich habe ein paar Mal nachgefragt, aber es passiert nichts. Man hat das Gefühl: Wer nicht im Amazon-System funktioniert, ist nur noch geduldet. Klar ist es etwas mehr Aufwand in der Einsatzplanung, die Sonderarbeitszeitmodelle zu integrieren. Aber früher gab es Führungskräfte, die darauf geachtet haben, dass auch Beschäftigte, die sich in Sonderarbeitszeitmodellen befanden, abwechslungsreiche Tätigkeiten bekommen haben. Die Frage ist, ob es überhaupt das Ziel ist, dass wir zufrieden sind.

Hoher Krankenstand, viele Arbeitsunfälle: Alltag beim Picken im Amazon-Lager
© Christian Jungeblodt

ver.di: Ist das Picken, die Arbeit im Lager, gesundheitsschädigend?

Franka: Ich denke: auf Dauer schon. Bisher habe ich Glück. Es geht es mir gesundheitlich noch relativ gut. Aber an manchen Tagen bin ich schon so kaputt, dass ich mir Gedanken mache, wie es später sein wird. Das sind dann Gedanken wie „Habe ich bald auch gesundheitliche Einschränkungen oder dauerhafte Schädigungen durch die Arbeit?“ und „Was, wenn ich arbeitsunfähig werde?“. Und selbst wenn es nicht dazu kommt, bleibt immer noch die Frage: „Schaffe ich das Tempo bis zu Rente?“ 

Ich glaube nämlich nicht, dass das über Jahrzehnte durchzuhalten ist! Ich sehe ja die Kollegen und Kolleginnen, die kaputte Kniegelenke haben oder etwas an der Bandscheibe – überhaupt gibt es viele Bandscheibenvorfälle bei uns, auch im Nackenbereich! Der Krankenstand bei Amazon ist generell hoch. Das Problem ist, dass man oft auf die Knie gehen muss, fast mit dem Gesicht auf dem Boden, wenn der gesuchte Artikel weit hinten im untersten Fach liegt – das geht bei vielen auf Knochen und Gelenke. Der nächste Artikel liegt dann ganz oben, also vom Boden unter Zeitdruck auf die Tritthocker – dabei passieren nicht selten Arbeitsunfälle.

Arbeitsunfälle durch Zeitdruck

Dazu kommt der Scanner: Das Display ist im Verhältnis zur Größe des Geräts sehr klein ist – stell dir ungefähr die Hälfte des Bildschirms eines der alten, kleinen iPhones vor. Man starrt den ganzen Tag da drauf, meist im Rennen, und das bei Lichtverhältnissen, die sich ständig verändern, je nachdem wo man sich gerade im Lager bewegt. Das geht vor allem aufs Sehvermögen. Viele Ältere können oft gar nichts mehr erkennen. 

Neben den Augen leiden auch Armgelenk und Nacken. Wenn man das Gerät eine Schicht lang in der Hand hält, ist es ziemlich schwer. Das macht auf Dauer die Armgelenke kaputt. Und wenn man sich bei uns umschaut, sieht man viele Kolleg*innen mit Armmanschetten. Und Kniestützen, nicht nur die Älteren! Teilweise sind es sogar junge Menschen, die noch nicht so viele Beschäftigungsjahre auf dem Buckel haben. 

Dazu kommt dann noch der Zeitdruck. Unter Druck vergisst man schnell, sich richtig zu bewegen. Zumal man dann auch langsamer ist und möglicherweise ein negatives Feedback vom Vorgesetzten erhalten würde. Wie gesagt, da kommt es nicht selten zu Arbeitsunfällen. 

Das Problem ist: Wenn man einmal etwas Chronisches hat, ist immer die Gefahr da, dass man gesundheitsbedingt gekündigt wird, weil dann oft entsprechende Ausfallzeiten anfallen.

Betriebliches Eingliederungsmanagement als Entlassungsprogramm
der eingang zum amazon Fullfilment Center in Graben bei Augsburg bei Nacht

ver.di: Was so rechtlich natürlich nicht zulässig, ist, wie wir wissen. Wie geht das?

Franka: So wie ich es mitbekommen habe, geht es über Umwege. Wer langzeiterkrankt ist und dann wiederkommt, kriegt im Rahmen von BEM (Betriebliches Eingliederungsmanagement) verschiedene Maßnahmen verpasst – die meistens überhaupt nicht zur Situation der Person und ihrer Erkrankung passen. Eigentlich sollte BEM ja Beschäftigte dabei unterstützen, ihre Arbeit wieder ausüben zu können und im besten Fall sogar eine gesundheitliche Verbesserung herbeiführen. Dies wird bei uns aber wohl leider nie der Fall sein!

Dazu muss man wissen: Unser BEM-Team hat weder die benötigte Qualifikation noch medizinisches Fachwissen. Es besteht aus ehemaligen Versandmitarbeitern, die nach gesundheitlichen Einschränkungen selbst dort gelandet sind – und sich dankbar zeigen, dafür dass sie bleiben durften … Wenn dann eine Maßnahme scheitert, – vielleicht ist der Mensch dann wieder krank -, folgen die zweite und dritte Maßnahme, die natürlich auch keine Besserung bringen, und dann kommt die gesundheitsbedingte Kündigung … Oft werden die Leute aber auch überredet freiwillig zu gehen – per Aufhebungsvertrag. Viele sind dann irgendwann mürbe.

Wer länger hier ist, weiß, dass die betrieblichen Eingliederungs-maßnahmen, die ja eigentlich FÜR die Mitarbeiter*innen da sein sollten, hier ein Entlassungsprogramm sind. Ich weiß, dass einige Kollegen und Kolleginnen, die Gewerkschaftsmitglieder sind, die gesundheitsbedingte Kündigung nicht hingenommen und erfolgreich dagegen geklagt haben. Ich würde auch mein Recht einklagen! Jede*r hier weiß, dass die BEM-Maßnahmen grottenschlecht sind und in manchen Fällen sogar die Gesundheit verschlechtern … Aber den Mut hat nicht jede und jeder! Und deswegen schleppen sich so viele krank oder mit Schmerzen zur Arbeit! Im Übrigen wird auf diese Weise auch der Anteil der Stammbelegschaft immer geringer.

Verbesserungen im Amazon-Alltag? – nur mit Betriebsrat!

ver.di: Uff, das ist ganz schön heavy!

Franka: Dem Betriebsrat ist es zum Glück gelungen, gegen den Arbeitgeber einige Verbesserungen zu erkämpfen, die die Arbeit im Alltag etwas leichter machen als am Anfang. Die Carts, die Wagen, auf denen die Artikel gesammelt werden, sind heute besser und leichtgängiger als die früher. Die Artikel sind anders angeordnet, so dass man mit etwas Glück ganze Bestellungen auf einer einzigen Ebene hat. Am Anfang war es Standard, dass man für jede Bestellung in alle Stockwerke musste. Das sind so kleine Verbesserungen im Arbeitsalltag, aber noch lange nicht ausreichend. Es ist nicht gerade toll, dass alle Veränderungen, die unsere Gesundheit betreffen, immer hart über den Betriebsrat oder durch Druck von außen erkämpft werden müssen.

Und natürlich gibt es auch heute noch Wochen, in denen du Pech hast, also viele unangenehme Schichten hintereinander. Dies liegt an den Bestellungen bzw. wo die Artikel liegen. Du musst halt dorthin, wo sich der jeweilige Artikel für den Kunden befindet, und das kann am anderen Ende der Halle sein. 

Amazon-Führungskräfte: „Unsere Team-Manager sind Aufpasser“

ver.di: Ich habe verstanden, dass die Arbeit physisch echt fordernd ist, auf Dauer ist Verschleiß kaum zu vermeiden. Noch schlimmer macht es der Zeitdruck. Da schließt sich die Frage an, wie denn das Verhältnis zu den Führungskräften ist …

Franka:  Man hat den Eindruck, dass die Führungskräfte im Lager in erster Linie dazu da sind, um uns anzutreiben und zu kontrollieren. Wechselt man im Gang mit einer Kollegin ein paar Worte, taucht sofort jemand auf und fragt etwas wie: „Kann ich euch weiterhelfen?“ Sie bleiben dann stehen, bis wir weitergehen. Mir ist auch schon mal jemand bis zur Toilette gefolgt. Sie positionieren sich an Schleusen, in Gängen, an Treppenaufgängen oder Sanitärbereichen, um Kolleginnen und Kollegen abzufangen, die sich eventuell eine Minute zu früh Richtung Ausgang begeben. Oder sie kontrollieren, wer vielleicht zwei Minuten zu früh in die Pause geht. Wir im Lager nehmen die Manager vor allem als „Aufpasser“ wahr.

Setzt sich eine Führungskraft für uns ein oder zeigt Verständnis für unsere Situation, ist sie oft bald weg vom Fenster. Ich bin jetzt so lange da und habe so viel gesehen, dass ich sagen kann: Das ist kein Zufall … andersrum merkt man, dass sie auch Druck haben. Hat einer eine besonders „strenge Phase“, wissen wir schon: „Bei dem oder der läuft bestimmt auch der Vertrag bald aus!“ 

Eigeninitiative: bei Amazon nicht gefragt!

Margarethe: Es ist bekannt, dass Amazon bevorzugt Führungskräfte anstellt, die einen militärischen Hintergrund haben. Sieh dir mal die Stellenanzeigen an! Am liebsten sollten wir alle wie beim Militär gehorchen! Und so gehen die dann auch mit uns um: „Ja Chef“ – „Wird gemacht, Chef“ usw. Diese Art der Führung ist nicht wirklich gesundheitsfördernd.

Franka: Natürlich ist das nicht immer so schwarzweiß. Wir hatten mal eine ganz tolle Betriebsärztin, die wirklich Ohren für unsere Probleme hatte. Von einem auf den anderen Tag war sie auf einmal weg. Ihr Nachfolger ist ganz auf Amazon-Linie …

Neben der Überwachung durch unsere Vorgesetzten werden wir über die Scanner kontrolliert. Klar, die Geräte erleichtern uns die Arbeit – auf der anderen Seite haben sie wegen dieser Geräte zu jeder Sekunde die komplette Kontrolle darüber, wie schnell man arbeitet. Am Anfang haben sie uns sogar Nachrichten auf den Scanner geschickt, wenn sie fanden, dass wir zu langsam seien, nach dem Motto „Gib Gas!“. Dank des Einspruchs des Betriebsrats dürfen sie jetzt wenigstens das nicht mehr.

Befristete Arbeitsverträge, um Belegschaften zu schwächen

ver.di: Das ist ja wirklich ein unfassbares Misstrauen, das den eigenen Belegschaften entgegengebracht wird. Ich habe gehört, dass außerdem auch über Arbeitsverträge Druck aufgebaut wird …

Franka: Ja, das ist richtig! Wer bei Amazon neu anfängt, erhält befristete Verträge – und zwar so lange, wie es rechtlich geht, nämlich zwei Jahre. Oft nur über drei Monate, dann vielleicht sechs – NIE für zwei Jahre am Stück. Und auch das hat System! In Feedback-Gesprächen wird einem dann gesagt, man müsste sich beweisen, wenn man übernommen werden möchten. Dann heißt es: OK, wir konnten dich noch mal verlängern, aber nur für drei Monate erst mal. Da ist dann der Druck eigentlich direkt wieder da. 

Eine meiner Kolleginnen wurde jetzt auch gerade noch mal befristet – das ist so typisch -, weil sie im Vertrag davor ein paar Krankheitstage hatte. Sie hat jetzt noch mal zwei Monate Befristung bekommen, um sich „zu beweisen“, wie man ihr im Feedbackgespräch gesagt hat. Aber selbst wenn man dann einen unbefristeten Vertrag hat: So richtig hört es nie auf. Du lebst ständig mit der Angst, dass du gekündigt wirst. So entstehen dann erst recht Arbeitsunfälle, die Fehlzeiten nach sich ziehen, und das kann wiederum auch zur Kündigung führen. Ein Teufelskreis also.

Das Feedbackgespräch als Druckmittel

ver.di: Was sind das für Feedbackgespräche?

Franka: Wir wissen alle, dass es nichts Gutes bedeutet, wenn ein Manager dich fragt, ob du Hilfe brauchst … Dann weißt du, dass du zu langsam bist. Das ist so eine Art psychologische Gesprächsführung: Sie versuchen, dir ein schlechtes Gewissen einzureden, bauen Druck auf …

Sie tun so, als ob sie einem helfen wollen – aber in Wirklichkeit geht es darum, alles aus einem rausholen, auf Kosten der Gesundheit. Dass man bis an seine Grenzen geht, heißt nicht, dass man am Ende den Festvertrag kriegt. Es ist für uns nicht wirklich nachvollziehbar, wie sie ihre Entscheidungen treffen, wer bleiben kann und wer nicht. Man ist einfach der Willkür der Vorgesetzten ausgeliefert. 

Wider den Arbeitsvertrag: Druck durch Pick-Vorgaben

ver.di: Ich nehme an, dass ihr eine bestimmte Menge an Bestellungen schaffen müsst? Gibt es konkrete Vorgaben?

Franka: Wie so vieles andere steht es nicht im Vertrag und es wird auch nicht offen gesagt. Aber es ist allgemein bekannt, dass pro Stunde ein Minimum von 100 Picks gewünscht ist. Wie schon gesagt: Über die Scanner wird getrackt, wie schnell jede*r Einzelne arbeitet. Wie alle hier habe ich mich vor meinem unbefristeten Arbeitsvertrag fast kaputt geschuftet – damit ich den Festvertrag bekomme.

Aber auch danach – mit festem Vertrag – versuchen alle, ein möglichst hohes Tempo einzuhalten – damit man sich nicht dem negativen Feedback nicht aussetzten muss. Auf Dauer ist das so gesundheitsschädlich! Ich habe den Vorteil, dass mich nach den Jahren im Lager sehr gut auskenne und dadurch etwas Zeit sparen kann.

ver.di: Ich kann mir noch nicht richtig vorstellen, was das bedeutet – wie sehr muss man sich hetzen, um diese einhundert Picks zu schaffen?

Franka: Es ist schon ein großer Druck. Ich sehe die neuen Kolleginnen und Kollegen, wie sie durch die Gänge hasten – und wie viele das Pensum nicht schaffen. In der ersten Zeit hatte ich dasselbe Problem, auf diese Zahl zu kommen. Heute habe ich eine gewisse Routine und schaffe es irgendwie. Trotzdem – an Tagen, an denen ich nicht so gut drauf bin, ist es immer noch schwierig oder wenn man eine hohe Zahl an Bestellungen hat, für die man viel laufen muss.

Auch Ältere haben hier sehr zu kämpfen. Ich habe auch meine Zweifel, dass ich dieses Tempo über die Jahre aufrechterhalten kann. Wir haben ja viele Ältere bei uns, da hat man die eigene Zukunft vor Augen.

Ich weiß zum Beispiel zum Beispiel von einer Kollegin, die kurz vorm Rentenalter ist. Sie schafft es nicht mehr, das Stockwerk zu wechseln. Sie musste jetzt ein Attest vom Facharzt einholen und damit beim Betriebsarzt vorstellig werden. Danach wird entschieden, ob sie bei uns noch einsetzbar ist. Kann sein, dass man ihr entgegenkommt, kann aber auch sein, dass man ihr anrät, einen Aufhebungsvertrag zu unterschreiben. Auch bei den Neuen sehe ich, wie sie durch die Gänge hetzen, weil sie den unbefristeten Vertrag haben möchten.

„Jeder weiß, dass Krankentage zur Kündigung führen können“

ver.di: Du hattest das ja erwähnt, wenn man unter Zeitdruck arbeitet, dass das zu Verletzungen kommen kann …

Franka: Arbeitsunfälle kommen häufiger vor … und Krankenscheine sind hier nicht gerne gesehen sind. Krankentage sind eine echte Bedrohung. Natürlich ist auch das nicht offiziell. Offiziell heißt es: Krankheit führt nicht zu Kündigung -; aber jeder weiß, dass Krankentage zur Kündigung führen KÖNNEN. Obwohl ich schon so lange da bin, hab auch ich kein gutes Gefühl, wenn ich mich krankmelden muss. Vor ein paar Jahren hatte ich am Anfang des Jahres einen Arbeitsunfall, da musste ich mich krankschreiben lassen, und etwas später eine starke Erkältung. Ich bin trotz der Erkältung hingegangen. 

Denn es gibt noch einen richtig fiesen Faktor: den PRP-Bonus, das ist ein Bestandteil unserer Bezahlung, der vom ganzen Team gemeinsam erarbeitet wird. Wenn ich krank bin, schaffen wir insgesamt weniger, und damit kriegen das auch meine Kolleginnen und Kollegen aus der Abteilung finanziell zu spüren. 

ver.di: Ich verstehe es so, dass sich der Arbeitgeber im Prinzip wünscht, dass ihr permanent auf dem gleichen Level funktioniert – wie Maschinen – ohne Bedürfnisse, Krankheiten, Stimmungen. 

Wann sind – übers Jahr gesehen – für dich die besonders stressigen Zeiten? Was ist mit Sonderangeboten wie Black Friday und Cyber Week …?

Franka: Ich habe seit vier Jahren keine dieser Rabatt-Aktionen mitgemacht, weil ich gestreikt habe (lacht). Was natürlich kein Zufall ist: Das ganze Jahr schuften wir wie die Esel und sie legen Bonuszahlen & Prämien mit Absicht in die Zeit der Streiks vor Weihnachten. Auch Arbeitsverträge werden gern erst nach den Streiks verlängert.

Manchmal kommen Kolleg*innen am Streikposten vorbei und sagen, dass sie gerne mitstreiken würden, aber leider nicht können, weil sie auf ihren neuen Vertrag warten. Sie sprechen uns Streikenden Mut zu und bedanken sich sogar dafür, dass wir uns nicht einschüchtern lassen und für unser aller Rechte kämpfen.

Amazon-Stammbelegschaften: Weihnachtsgeschäft ist Mehrbelastung

ver.di: Und wie ist das vor und um Weihnachten herum?

Franka: Die Zahl der Bestellungen explodiert jedes Jahr. Entsprechend steigt die Beschäftigtenzahl, das ist sowieso schon für uns alle sehr stressig. Amazon legt in dieser Zeit gern den Fokus auf Masse statt Qualität. Die neuen Kollegen sind oft mit den Anforderungen überfordert und kommen nicht wirklich klar – aber man kümmert sich auch nicht um sie. Jedes FC bekommt anhand seiner neuen Beschäftigtenstärke das Arbeitsvolumen zugeteilt. Das klingt erst mal schön und gut. Weil sie nicht eingearbeitet sind, können die Neuen ihre Arbeitsaufträge aber nicht annähernd schaffen – deswegen bekommen wir anderen diese offenen Bestellungen dann später zusätzlich zugeteilt. 

ver.di: Das heißt: Die ganze Arbeit bleibt am Ende an euch hängen?

Margarethe: Ja so ziemlich. Dazu muss man wissen: Für Amazon ist am Weihnachtsgeschäft das Lieferversprechen am wichtigsten. Du kennst das: „Deine Bestellung ist in 24 Stunden bei dir.“ Deswegen brauchen sie die vielen Kräfte, damit die Bestellungen ohne Verzögerung sofort abgearbeitet werden können. Wenn die Neuen das Tempo aber nicht schaffen und die Gefahr besteht, dass ein Auftrag nicht in der vorgeschriebenen Zeit erledigt ist, hat das Auswirkungen auf unsere Pickpfade. Denn da zählt nur, dass der Artikel gepickt ist – egal von wem. Und so kommt man solchen Tagen auf 30.000 Schritte und mehr. Für uns wäre es besser, wenn Amazon das Volumen anhand der tatsächlichen möglichen Arbeitsleistung berechnet und nicht nach der neuen Beschäftigtenstärke. Das würde uns vieles erleichtern und die Neuen hätten auch eine reale Chance sich zu beweisen.

Amazons toxische Unternehmenskultur triggert Corona-Infektionen
Streikende Amazon-Beschäftigte in Winsen im Juli 2023

ver.di: Verstehe. Das Diktat des „Lieferversprechens“ geht immer auf Kosten der Stammbelegschaften. 

Kommen wir zum Thema Covid-19. Was war in diesem Pandemie-Jahr anders? Wie man hört, hat Amazon nicht viel dafür getan, dass Abstands- und Hygieneregeln eingehalten werden können. Dafür steht ja auch die hohe Zahl an Infektionen an den Standorten, die im Herbst bekannt wurde.

Franka: Offiziell wird permanent betont, wie wichtig die Hygiene-Maßnahmen sind. Aber wenn man genau hinsieht, wurde nicht viel dafür getan, dass man die Aha-Regeln im Arbeitsalltag wirklich einhalten könnte. Es gibt zwar überall Aushänge, auf denen steht: „Wer Erkältungssymptome hat, bleibt zuhause.“ Aber dann kommt wieder die Angst, zu viele Krankheitstage zu haben und dass man doch irgendwann die Kündigung im Briefkasten findet. Viele gehen deswegen trotz Erkältungserscheinungen zur Arbeit. 

Margarethe: Seit dem Beginn von Corona haben sie die Schichten aufgeteilt. Es gibt seitdem statt einem großen Schichtwechsel jetzt jeweils zwei Früh-, Spät- und Nachtschichten, die jeweils um 30 Minuten versetzt anfangen und enden. Die erste Frühschicht beginnt zum Beispiel um 6.15 Uhr und geht bis 14.30 Uhr, die zweite um 6.45 Uhr und endet um 15.00 Uhr.

Franka: Die Probleme, was die Abstandsregeln betrifft, fangen schon am Eingang draußen an! Wenn ich mit der ersten Schicht anfange, ist es dort ziemlich voll. Da liegt daran, dass man erst ab 6 Uhr ins Gebäude darf. Wenn man früher kommt, wird einem die Zeit erst ab einer vollendeten halben Stunde gutgeschrieben. Alles darunter ist ein Geschenk an den Arbeitgeber. Andersherum: Wer eine Minute nach 6 Uhr stempelt, dem- oder derjenigen wird wegen Zuspätkommens Geld abgezogen. Das bedeutet, dass trotz der Teilung der Schicht um die 400 Menschen in 15 Minuten durch die Schleuse gehen. Die ersten Schlangen gibt es also schon vor Betreten des Gebäudes.

So geht es dann auch weiter: Im Gebäude begegnen sich die Schichten beim Wechsel. Wenn sich die eine Schicht im engen Treppenhaus nach oben Richtung Ausgang bewegt und die neue Schicht hinunter Richtung Halle, ist es unmöglich, auf dem Weg Abstand einzuhalten! Der Treppenaufgang ist so eng, dass ich mit einer Person, die mir entgegenkommt, zwangsläufig seitlich Körperkontakt haben muss. 

Aber auch während der Arbeit ist es unmöglich, in den Gängen Abstand zu halten. Warten, bis die andere Person „fertig“gepickt hat, geht nicht, dann verliert man zu viel Zeit.

Margarethe: Zumindest für die Situation an den Eingängen gibt es eine einfache Lösung. Wir haben überall Fluchttüren innerhalb des Gebäudes, die man für diese Zeit als Ein- bzw. Ausgang umfunktionieren könnte. Das wäre mit einem überschaubaren Kostenaufwand verbunden – mehr Security und zusätzliche Spinde für die Mitarbeiter, die dann von dort das Gebäude betreten würden. Ich finde, mit den Gewinnen, die Amazon in der Pandemie gemacht hat, sollte so ein überschaubarer finanziellen Aufwand für die Gesundheit der Beschäftigten möglich sein!

Zum Feierabend gibt es im Moment immerhin eine minutengenaue Abrechnung. Trotzdem wollen die meisten pünktlich nach Hause. Hier ist das Gedränge nicht weniger schlimm, im Gegenteil! Abstandhalten ist unmöglich. 

Das Amazon-Lieferversprechen steht über der Gesundheit der Belegschaft
Streik bei Amazon in Bad Hersfeld Foto: Wolfgang Becker; Fototeam Hessen

ver.di: Da hätte man wahrscheinlich baulich Veränderungen vornehmen müssen, um die Menschenströme umzuleiten, oder?

Franka: Na ja, sie haben ein Absperrgitter in die Mitte gestellt, aber das nützt überhaupt nichts bei den vielen Menschen. Das Irre ist, dass es auch hier eine einfache Lösung gibt, einen dritten Eingang von früher her noch, den man nützen könnte. Der existiert auch noch, man müsste ihn nur wieder öffnen und mit Security besetzten, zusätzlich könnten die Fluchttüren aus Ein- und Ausgang genutzt werden, auch dort sind in der Nähe Stempeluhren. Das passiert aber nicht.

ver.di: Das verstehe ich nicht. Wieso nimmt man den Eingang nicht wieder in Betrieb, um die Situation zu entzerren?

Franka: Ich nehme an, das ist die Mentalität. Bei Amazon wird alles bis ins Detail von der Zentrale in Europa gesteuert. Eigeninitiative ist nicht Teil der Unternehmenskultur. Genauso wird jeder auch noch so geringe finanzielle Aufwand gescheut.

Der dritte Punkt ist, dass wahrscheinlich der LKW-Verkehr etwas umgeleitet werden müsste, so dass kein Personenschaden entsteht. Im schlimmsten Fall müssten LKWs dann ein paar Minuten später andocken oder abfahren. Ich denke ja, das wäre machbar. Für Amazon ist der Faktor Zeit – wegen der Lieferversprechen – aber leider wichtiger als die Gesundheit der Beschäftigten.

Maskenpflicht: Keine Pause zum Durchatmen

Margarethe: Aber noch mal zum Thema Maske: Seit November tragen wir bei der Arbeit dauerhaft Maske – das ist natürlich richtig, macht die Arbeit aber noch anstrengender – Im Qualitätsmanagement habe ich zum Glück die Möglichkeit, an meinem festen Arbeitsplatz die Maske mal abnehmen und durchatmen zu können – wir haben aber trotzdem nur eine Pause und der Druck durch die Manager bleibt derselbe wie vorher. Ein paar zusätzliche Minuten Pause wären gut. 

Franka: Picker oder Stower haben diesen Luxus nicht. Wir laufen die komplette Schicht mit FFP2-Maske. Das Atmen fällt wirklich schwer. Meiner Ansicht nach muss Amazon Möglichkeiten schaffen, dass man mal Luft holen kann. Man könnte zum Beispiel an den Fluchttüren kleine Außenbereiche schaffen. Seitdem ich die Schicht über Maske trage, macht mich die Arbeit noch müder. Am schlimmsten war das vor Weihnachten, als wir Sechs-Tage-Wochen hatten. So war noch nicht mal Freizeit da, um sich zu regenerieren. 

Margarethe: Viele Mitarbeiter halten sich nicht an die Maskenpflicht. Leider wird das auch von den Team Leads oder Managern so vorgelebt. Uns kontrollieren sie zwar, aber wenn sie selbst zusammenstehen, ist die Maske oft unten. Und das bekommen die Kollegen und Kolleginnen mit. Das betrifft auch die Anreise! Was nützen einem hier und da Maßnahmen, wenn man auf dem Parkplatz Fahrgemeinschaften beobachten kann – zum Teil mit bis zu fünf verschiedenen Haushalten – und keiner von denen trägt Maske. Bei uns in Graben hält der Regionalzug direkt vor dem Center. Entsprechend sind die Züge immer überfüllt. Beim Aussteigen reißt sich jede*r die Maske runter und von Abstand ist nicht mehr die Rede.

Eine kleine positive Änderung ist, dass man am Ende der Pause immerhin zusätzliche Zeit bekommen hat, sich die Hände waschen zu gehen.

Trotz Pandemie: unzureichende sanitäre Bedingungen
Toiletten mit überquellenden Mülleimern während der Corona Pandemie beim Amazon-Standort Graben
Sanitärräume im Amazon-Verteilzentrum Graben während der Corona-Pandemie

Margarethe: Die Toiletten werden aber nicht ausreichend gereinigt. Seit der Pandemie sind die Sanitärbereiche wegen der erhöhten Nutzung dreckiger als vorher. Die Reinigungsintervalle sind aber leider nicht erhöht worden. Die Mülleimer reichen nicht aus, die benutzten Einmalhandtücher liegen am Boden, Seifen- und Desinfektions-Spender sind oft leer. Die Bilder gingen im Internet rum. – Es gab nicht wenige Reaktionen wie: „Na, das sind ja die Beschäftigten selbst, die die Sanitärbereiche so hinterlassen. Die sind ja selber schuld!“ Nein, so ist es nicht! Die Reinigung und die Bereitstellung von Seife etc. liegt in der Verantwortung des Arbeitgebers! 

Corona-Pandemie: Gewinne für den Konzern, mehr Arbeit für die Menschen

ver.di: Ich erinnere mich, die Bilder der WCs hatten wir auch auf Facebook geteilt und in der Tat gab es diese Reaktionen. 

Kommen wir zum Punkt Bezahlung: Franka, wirst du für die anfallende zusätzliche Arbeit, den zusätzlichen Stress seit Beginn der Corona-Pandemie eigentlich entsprechend besser entlohnt? – Denn das Bestellaufkommen ist ja über das ganze Jahr 2020 viel höher gewesen, Amazon hat allein in den ersten drei Quartalen 30 Prozent mehr Gewinn gemacht. Im letzten Quartal fiel der Gewinn ja noch mal um ein Vielfaches höher aus. Und meine Vermutung ist, dass es wegen der Einschränkungen auch 2021 nicht schlecht läuft …

Franka: Im Prinzip kommt nicht mehr Geld bei mir an. Sie schieben Gelder hin und her – hier fällt ein Bonus weg, dort kommt ein neuer hinzu – dadurch ist es nicht so transparent. Aber wenn man nachrechnet, kommt man im Endeffekt bei fast derselben Summe raus, die man im Jahr davor verdient hat. Wenn ich die Mehrbelastung einrechne, die dieses Jahr mit sich gebracht hat, ist es insgesamt für mich auf jeden Fall eine Negativrechnung.

ver.di: Wie habe ich mir das das genau vorzustellen?

Franka: Für zwei Monate, im April und Mai, gab es kurzzeitig 2 Euro mehr Lohn in der Stunde – steuerfrei. Das war gut, wurde aber zum Juni sofort wieder abgeschafft. Außerdem haben wir einen einmaligen Corona-Bonus über 500 Euro erhalten. Normalerweise gibt es jedes Jahr einen Pick-Bonus für die letzten Tage vor Weihnachten, weil die besonders stressig sind.

Dieser Bonus fällt dieses Jahr weg, stattdessen erhalten wir in diesen Tagen wieder 2 Euro pro Stunde mehr auf den Lohn – diesmal allerdings brutto und nicht bei Überstunden. Mit all diesen Umschichtungen kommen wir wahrscheinlich auf insgesamt die gleiche Summe wie im letzten Jahr.

Ich finde das ungerecht! Amazon hat so viel Gewinn gemacht und wir kriegen nichts ab vom Kuchen. Ach ja, es gibt auch eine jährliche Lohnerhöhung, aber die ist dieses Jahr so lächerlich ausgefallen, dass ich sie fast vergessen hätte!

„Über die genaue Zahl der Corona-Fälle schweigt Amazon sich aus“

ver.di: Also werden auch in diesem Aspekt alle Vorurteile bestätigt. Wir hören im Moment öfter das Argument, Amazon zahle nicht so schlecht, der Grundlohn sei an den Tarifvertrag im Einzelhandel angelehnt, für den wir ja kämpfen. Aber hier zeigt sich dann, dass man nicht gewillt ist, die Beschäftigten in irgendeiner Form am Gewinn zu beteiligen – egal was sie einbringen.

Kommen wir zum Pandemie-Geschehen: Man hört von massenhaften Corona-Ausbrüchen an manchen Standorten. Wie ist das bei euch? 

Franka: Im ersten Lockdown hat man eigentlich nur durch Zufall mitbekommen, dass es Corona-Fälle gab. Es fehlten immer wieder Kolleginnen und Kollegen und dann erkundigt man sich eben bei den Betroffenen. Erst durch die persönliche Nachfrage wusste man dann, dass die Person in Quarantäne oder sogar Corona-positiv ist. Über die genauen Zahlen schweigt sich Amazon aus und wenn doch mal eine Antwort kam, lag die Zahl immer bei „20“.

Als wir dann im Herbst gestreikt haben, war das Infektionsgeschehen auf einmal greifbarer. Einige Kolleginnen und Kollegen, die sich immer an allen Arbeitskampfmaßnahmen beteiligt haben, fehlten. Es kamen dann immer mehr Nachrichten wie „Ich wäre gern dabei, bin aber in Quarantäne“ oder „Sorry, habe Covid-19“. Dank der ehrlichen Rückmeldung unserer Kolleginnen und Kollegen über ihren Verbleib war auf einmal die Realität eine ganz andere. 

Trotzdem: Ich höre zwar immer wieder von Kollegen oder Kolleginnen, die länger erkrankt sind, aber so richtige Massenausbrüche gibt es bei uns wahrscheinlich nicht. Da es aber so viele Abteilungen und Bereiche sind, hat man letztendlich keinen richtigen Überblick. Rein vom Bauchgefühl finde ich, dass es in der Stammbelegschaft mehr Infektionen gibt als „draußen“. Aber wie gesagt, uns sind bis heute keine offiziellen Angaben von Seiten Amazon bekannt. Hat man offiziell nachgefragt, bekam man als Antwort „Datenschutz“. Ich denke, die halten das Thema so klein wie möglich.

Wer streikt, muss picken

ver.di: Wie ist es, bei Amazon Gewerkschaftsmitglied zu sein?​ 

Franka: Das finden die nicht toll, überhaupt nicht, aber sie tun so, als stünden sie darüber. Die Nachteile spüren wir dann hinterher.

Wer gestreikt hat und eine Sonderposition hatte, wird hinterher zum Picken geschickt. Entlassen wird laut Geschäftsleitung keiner – ich weiß aber von mindestens einem Fall, wo es doch geschehen ist. Die Person hat sich aber wieder eingeklagt und das würde ich auch so machen.

Amazon als Arbeitgeber? – Gemeinden zahlen drauf
Streiks zum Prime Day 2023 in Graben

ver.di: Wenn ich das jetzt alles gehört habe, frage ich mich: Warum holen sich die Gemeinden Amazon in die Region? Profitiert die Gemeinde wirklich, wenn ein neues Versandzentrum entsteht?

Margarethe: Klar glauben die Gemeinden, dass sie als Standort profitieren – dass es wirklich so ist, bezweifle ich aber. Amazon verlangt von neuen Standorten erst mal, dass die Kommunen ihnen die benötigte Infrastruktur hinstellen, sogar dass neu gebaut wird: In Graben wurde zum Beispiel extra ein DHL-Zentrum angebaut, damit der Versand schneller geht. Oft wird durch die Kommune auch der Platz für die vielen Lastwagen geschaffen. Amazon zahlt dabei nur das Nötigste: die 0815-Gewerbesteuer und die Lohnsteuer, aber nicht Gewinn- und Umsatzsteuer. Dabei kann man eigentlich sehr gut nachvollziehen, welche Ware in welches Lager geht und welche Bestellungen in Deutschland getätigt werden.

Die meisten Kunden wissen nicht, dass ihre Bestellungen über Server im Ausland laufen, und auch nicht, dass sie ihre Rechnung über das Ausland zahlen. So etwas sollte es meiner Meinung nach nicht geben.

Franka: Ich finde auch, dass es der Staat Amazon zu leicht macht. Und natürlich verspricht Amazon, die Arbeitslosenzahlen in der Kommune zu senken. Es gibt Presseberichte von damals, da heißt es „Amazon Graben schafft 5000 neue Stellen“. Wie viele arbeiten tatsächlich heute da? – Nicht mal die Hälfte! Und davon sind sehr viele Arbeitsplätze dann noch befristet. Sobald der neue Standort angelaufen ist, wird die Masse nicht mehr benötigt und es wird ausgesiebt. 

ver.di: Wirklich allerletzte Frage: Gab es in Graben eigentlich auch die berühmten „Amazon-Praktikanten, die immer mal wieder um Weihnachten herum durch die Pressen gingen?

Margarethe: Ich kenne eine Geschichte, nach der ganz am Anfang Mitarbeiter*innen fürs Versandzentrum geworben wurden, die dafür zum Teil feste Stellen aufgegeben haben. Danach erst haben sie mitbekommen, dass sie statt eines Jobs jetzt in Maßnahmen vom Arbeitsamt beschäftigt waren.

ver.di: Noch mal ein Klopper zum Ende! Vielen Dank, dass ihr den Mut hattet, uns von den Arbeitsbedingungen bei Amazon zu berichten.

Die Namen der Amazon-Beschäftigten wurden zu ihrem Schutz geändert.

Seit über 10 Jahren kämpfen wir bei Amazon für die Anerkennung der Flächentarifverträge des Einzel- und Versandhandels und lassen nicht nach. Hier kannst du die die Höhepunkte nachlesen.

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