Wie fühlt es sich an, in einem Krankenhaus in der Pflege zu arbeiten? Man liest von schlechter Bezahlung, unzumutbaren Arbeitszeiten und Fachkräftemangel. Die Krankenpflegerin und Betriebsrätin Lilian „Lily“ Kilian erzählt uns von ihrem Arbeitsalltag auf einer psychiatrischen Station.
„Die Arbeit in der Psychiatrie ist jeden Tag anders“
ver.di: Liebe Lily, schön, dass du dir Zeit für uns genommen hast, um mit uns über deinen Arbeitsalltag im Klinikum am Weissenhof zu berichten. Als Erstes würde ich gern wissen: Seit wann bist du in der Pflege?
Lily Kilian: Ich habe ab 1987 meine Ausbildung am Klinikum begonnen und dort auch 1990 das Examen gemacht. Nach fünf Jahren in der Neurologie bin ich in die Akut-Psychiatrie gewechselt, in die damals noch geschlossene Station für Männer. Als ich mit meinen Söhnen schwanger war und in dieser Zeit dort nicht arbeiten durfte, habe ich zwischenzeitlich auch woanders Erfahrungen gesammelt: Ich war zum Beispiel auf der offenen Station für Akut-Psychiatrie oder in der Sucht eingesetzt.
Selten in der Pflege: Arbeit auf Augenhöhe mit dem ganzen Team
ver.di: Du hast ganz offensichtlich nicht den einfachsten Weg gewählt: Warum bist du in die Psychiatrie und dann gleich in die geschlossene Station gegangen? Was waren deine Motive?
Lily Kilian: Mich reizt es, dass in der Akut-Psychiatrie jeder Tag anders und aufs Neue herausfordernd ist. Man weiß nie, was passiert. Natürlich kann es manchmal auch gefährlich werden, wenn Menschen in extremen Ausnahmezuständen eingewiesen werden. Deswegen ist auch die Zusammenarbeit so wichtig; und zwar mit allen, die an den Arbeitsprozessen beteiligt sind. Das ist ein ganz tolles Team, in dem ich arbeite, und damit meine ich wirklich alle Kolleg*innen: die Ärztinnen, wir in der Pflege, die Ergo-Therapeuten und die Sozialarbeiterin. Nur zusammen können wir den Patienten helfen und ihnen eine Perspektive geben.
ver.di: Das ist ja nicht immer so, dass die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Pflege auf Augenhöhe verläuft.
„Die Pflege kennt die Patienten am besten“
Lily Kilian (lacht): Die Pflege „leitet“ die Station. Wir sind 24 Stunden für unsere Patienten da. Wir sind es, die die Strukturen vorgeben und alle Arbeitsabläufe organisieren. Wie die Station funktioniert, wissen wir am besten, wir haben alle Informationen. Wenn neue Ärztinnen und Ärzte bei uns anfangen, wissen sie, dass sie sich auch bezüglich des Fachwissens auf uns verlassen können.
Ich glaube, dass es eine besondere Situation auf der Psychiatrie ist, was das Verhältnis zwischen Ärzten und Pflege angeht. Ich sage immer: Wir sind die „sprechende Medizin“. Die Ärzte wissen, dass sich Patienten ihnen gegenüber während der kurzen Visiten anders verhalten können als im Verlauf eines Tages. Unsere Beobachtungen oder Interpretationen, die wir über einen längeren Zeitraum machen, ergänzen das Bild. Es gibt viel Austausch untereinander.
Das entspricht auch unserem Leitbild. Wir versuchen, mit einem partizipativen therapeutischen Ansatz zu arbeiten. Das heißt, wir stellen individuelle Hilfeangebote zusammen, die mit den Patienten besprochen werden. Da geht es nicht nur um die verordnete Medikation. Wir versuchen, die Patienten mitsamt ihren Ressourcen und Defiziten wahrzunehmen, ihre Wünsche und Pläne zu erfahren und sie individuell im Genesungsprozess zu begleiten.
„Wir sehen den ganzen Menschen“
Früher wurde mehr „von oben herab“ verabreicht. Wichtig ist bei diesem Ansatz auch die Rolle unserer Sozialarbeiterin, die sich die soziale Situation des Patienten ansieht: Ist der- oder diejenige von Obdachlosigkeit bedroht? Kommt soziales Wohnen infrage oder kann er / sie noch alleine leben? Die Anforderungen sind auch hier vielfältig und arbeitsintensiv. Einige Patienten sind z.B. nicht krankenversichert, erhalten keine Sozialleistungen. Sie sind möglicherweise von Kündigung bedroht, weil sie durch ihre Erkrankung nicht in der Lage waren, sich um diese wichtigen Dinge zu kümmern.
Die Menschen, die mit ihren Problemen zu uns kommen, unterscheiden sich nicht nur in den Auswirkungen der jeweiligen Erkrankung, in Bildung, Lebensstandard und Familienstand.Oft leiden sie zusätzlich an somatischen Erkrankungen. Wir versorgen stillende Mütter mit Wochenbettpsychosen, Patienten mit Diabetes, Lungenerkrankungen, Herzproblemen. Wir haben Patienten mit Hirntumoren, die Auswirkungen auf ihr Wesen haben, sterbenskranke Menschen, die verwirrt sind und im Hospiz nicht mehr versorgt werden können. Patienten nach einem Suizidversuch, die sich teilweise massiv verletzt haben und im „normalen“ Krankenhaus aufgrund der bestehenden Eigengefährdung nicht ausreichend überwacht werden können und und und. Die Liste ist lang.
Ich wünsche mir mehr Personal in der Pflege, um den Menschen gerecht zu werden
ver.di: Was würdest du dir wünschen, um deine Arbeit noch besser machen zu können?
Lily Kilian: Ich wünsche mir eine höhere Personaldecke. Ich wünsche mir mehr Zeit für meine Patienten. Es geht ja bei uns noch mehr als anderswo in der Pflege darum, Beziehungen zu den Menschen aufzubauen. Ich hatte letztens eine Patientin mit Angststörung, die völlig aufgelöst weinend zu mir kam und die beruhigt werden musste. Ich hatte dafür in dem Moment eigentlich keine Zeit, aber wenn ein Mensch so in Not ist … Am Ende sah es so aus, dass ich sie an der einen Hand hatte, sie getröstet habe und mit der anderen Hand einen Bericht geschrieben habe. Trotzdem: Man macht beides halb und hat deswegen immer ein schlechtes Gewissen.
Was ich außerdem als störend und sehr anstrengend empfinde, sind die vielen Arbeitsunterbrechungen. Klar ist das bei unserer Art der Arbeit auch normal. Aber je weniger Personal, desto höher wird die Frequenz der Ablenkungen und desto kleinteiliger meine Arbeit. Und auch das wirkt sich bei dieser auf Beziehungen, Nachhaltigkeit und Vertrauen beruhenden Arbeit mit Menschen sehr negativ aus. Mehr Personal würde uns die Arbeit erleichtern und die Qualität erhöhen.
Ich mache meine Arbeit wirklich immer noch sehr, sehr gerne. Dabei muss ich zugeben, dass die Arbeit in anderen Abteilungen wie in der Klinik für Gerontopsychiatire noch mal körperlich anstrengender ist als bei uns. Dort ist die Fluktuation der Mitarbeiter auch entsprechend höher. Und natürlich kann ich mir nicht vorstellen, in einem rein somatischen Krankenhaus zu arbeite, wo die DRGs jeden Handgriff bestimmen und die Kolleginnen der Pflege nicht mal mehr dazukommen, ihre Pause zu nehmen. Wir in der Psychiatrie sind hier so ein bisschen die Insel der Glückseligen … (lacht)
In der Doppelrolle: im Pflege-Team & Personalratsvorsitz
ver.di: Vielen Dank, Lily! Jetzt haben wir einen Eindruck von deinem Arbeitsalltag und ich verstehe auch, weshalb dir die Arbeit so viel Spaß macht. Weil ihr – zusammen als Team – Menschen zurück ins Leben bringt. Aber ich weiß ja, dass du ja nicht nur in der Pflege tätig bist, sondern noch weitere Funktionen im Klinikum hast …
Lily Kilian: Das stimmt. Ich bin auch noch Personalratsvorsitzende. Ich bin seit 1993 im Personalrat und seit der letzten Wahl Vorsitzende. Frauenvertretung war ich zwischendurch auch mal. Ich habe zudem einen Sitz als Arbeitnehmervertreterin im Aufsichtsrat.
ver.di: Bist du als Personalsratsvorsitzende nicht freigestellt?
Lily Kilian: Ich bin zu 50 Prozent freigestellt und arbeite die zweite Hälfte normal auf Station. In den letzten Jahren waren es – je nach Aufgaben und Funktionen – immer zwischen 25 und 50 Prozent Freistellung. Eine komplette Freistellung, aus der Pflege raus zu sein – kann ich mir nicht vorstellen. Das wäre nichts für mich. Ich brauche die Bodenhaftung.
Als starker Personalrat: wissen, beraten, mitentscheiden
ver.di: Was konntet ihr durch die Mitbestimmung erreichen?
Lily Kilian: Also grundsätzlich sind wir erst Mal gut informiert. Wir haben einen Wirtschaftsausschuss. Darüber sowie über meinen Aufsichtsratsposten sind wir über alle wichtigen Entscheidungen informiert, die von der Krankenhausleitung getroffen werden. Wir arbeiten auch hier auf Augenhöhe, werden in viele Entscheidungen frühzeitig einbezogen, so dass wir da gut funktionierende Prozesse haben.
Wir sind zum Beispiel in alle Baumaßnahmen involviert. Nachdem vor Jahren einmal ein Umbau sehr schief gegangen ist (Türen wurden so eingesetzt, dass sie nach innen öffneten und sich Patienten hätten verbarrikadieren können), sitzen wir und die Leute von der Basis mit am Tisch. Wir kennen die Arbeitsabläufe einfach am besten. Die Mitglieder des Personalrats sind automatisch in allen wichtigen AGs und Gremien vertreten. Mittlerweile wird unser Fachwissen geschätzt.
„Wir kämpfen gegen Outsourcing und für Weiterbildung“
ver.di: Oft hört man, dass es gar kein qualifiziertes Personal mehr gibt, dass Ungelernte eingesetzt werden und so noch mal ein Niedriglohnsektor entsteht – neben dem Tarif. Wie ist das bei euch?
Lily Kilian: Wir haben sehr wenig Ungelernte, hauptsächlich in der Küche oder im Reinigungsdienst. Es gibt einige wenige einjährig Examinierte, die aber dann auch schon lange da sind – so der ehemalige Zivildienstleistende, der geblieben ist und nach dem Zivildienst noch ein Jahr draufgesetzt hat. Unschöne Sparmaßnahmen gibt es aber auch hier; auch bei uns wird der Reinigungsdienst fremdvergeben. Gerade arbeiten wir an einer Lösung, um die Kolleg*innen wieder an Bord zu holen.
Ansonsten setzen wir uns sehr für die Akademisierung der Pflege ein. Wir haben uns dafür engagiert, dass in jedem Semester vier Beschäftigte aus der Pflege berufsbegleitend studieren können, z.B. Psychiatrische Pflege, Pflegepädagogik oder Pflegemanagement. Dafür gibt es eine finanzielle Förderung vom Arbeitgeber sowie entsprechende Freistellung im Dienstplan für Präsenztage. Außerdem gibt es Angebote zur Fachweiterbildungen und einen sehr umfangreichen Fort- und Weiterbildungskatalog.
„Auch die Pflege kann streiken – mit Vorbereitung“
ver.di: Kommen wir zu den heißen Eisen: Streik. In der aktuellen Tarifrunde der Länder wird ja auch über eure Löhne verhandelt. Das ZfP ist ja auch in öffentlicher Hand. Was mich interessiert: Ich begegne immer wieder dem Argument von Pflegenden, dass man in der Pflege nicht streiken kann, weil man die Kranken nicht einfach liegen lassen kann …
Lily Kilian: Das ist nicht ganz richtig. Man kann streiken. Natürlich muss sichergestellt werden, dass kein Patient zu Schaden kommt. Da gibt es einen Versorgungsauftrag. Grundsätzlich weiß man aber vorher, dass ein Streik stattfindet und muss das entsprechend organisieren. Wenn wir streiken, gibt es Notdienstvereinbarungen. Das bedeutet, einige Stationen werden geschlossen, Patienten auf andere verlegt. Alle Leistungen werden heruntergefahren. So gibt es beispielsweise eine eingeschränkte Speisekarte, die Ärzt*innen (haben einen eigenen Tarifvertrag und sind deshalb aktuell nicht zum Streik aufgerufen) müssen dann auch schon mal die Medikamente verteilen.
Für gute Arbeit in der Pflege – PEPP muss weg!
Wir sind aber nicht nur für gerechte Gehälter aktiv. Wir organisieren auch immer wieder Aktionen gegen PEPP, das geltende Entgeltsystem für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Es wurde 2013 zur Abrechnung von Leistungen bei den Krankenkassen eingeführt. Die Arbeitsweise nach PEPP steht unserem therapeutischen Ansatz, überhaupt der Praxis völlig entgegen. Deswegen finden manche Aktionen auch in Absprache und mit der Unterstützung der Arbeitgeberseite statt, die das Abrechnungsverfahren genauso kritisch sieht wie wir.
ver.di: Ihr habt einen öffentlichen Träger und seid von der gerade laufenden Tarifrunde der Länder betroffen (Winter / Frühjahr 2019) …
Lily Kilian: Ja und wir haben uns auch an den Warnstreiks beteiligt. Wir haben hier insofern Glück, als dass unsere Geschäftsleitung die aktuelle Forderung eher begrüßt, weil auch bei uns der Fachkräftemangel ein Dauerthema ist und gute Leute für wenig Geld eben nicht zu kriegen sind. Bei uns waren an einem Warnstreiktag zum Beispiel vier externe Tageskliniken und eine psychosomatische Station geschlossen. An einem anderen Warnstreiktag gab es entsprechende Notdienste und einigen Therapien sind ausgefallen, weil die Kolleginnen und Kollegen streiken waren. Am 25.2. waren wir mit zwei Bussen zur Kundgebung in Stuttgart und haben ordentlich Lärm gemacht.
In Absprache haben wir außerdem ein Streikfrühstück in den Räumen des Personalrats veranstaltet. Die zum Zentrum gehörende Krankenpflegeschule hat auch mitgestreikt – wir haben eine sehr kämpferische JAV. Überhaupt sind die Kolleg*innen sehr kämpferisch: Wir hatten seit Beginn der Verhandlungen über zehn Beitritte.
Keine Abkopplung von den Gehältern von Bund & Kommunen – „Wir sind streikbereit!“
ver.di: Ich sehe, dass ihr wirklich Glück habt, dass es hier einen Konsens gibt mit der Klinikleitung. Aber wie sieht es aus, wenn es in der dritten Runde keine Ergebnisse geben sollte?
Lily Kilian (auf einmal sehr entschlossen): Das geht gar nicht. Wenn wir den Anschluss an den TV-ÖD nicht bekommen und für die Pflege deutlich weniger als die geforderten 300 Euro rumkommt, ist hier der Teufel los. Wir verdienen im Moment weniger als die Kollegen im Öffentlichen Dienst der Kommunen; sogar die Kirchlichen Einrichtungen zahlen mittlerweile mehr. Wenn die Länder unsere Forderung nicht erfüllen, können wir auch keine Rücksicht mehr auf unsere Klinikleitung nehmen, dann wird gestreikt! Das sehen auch die über 1200 streikenden Kolleginne und Kollegen so, die am 25.2. an der Kundgebung in Stuttgart teilgenommen habe. Wenn sich die Arbeitgeber jetzt nicht bewegen und ein ordentliches Angebot vorlegen, stehen die Zeichen auf Streik. Und wir sind gut aufgestellt.
ver.di: Liebe Lily, wir drücken euch und allen Streikenden die Daumen, dass die Forderungen durchkommen, euch natürlich speziell, dass ihr eure 300 Euro durchsetzen könnt. Es ist ja im Sinne von uns allen, wenn es gelingt, bessere Bedingungen für die Pflege zu erkämpfen: als Beschäftigte, aber auch als Patienten oder Angehörige. Vielen Dank, dass du uns Rede und Antwort gestanden hast.
Lily Kilian arbeitet im Pflegeteam der geschlossenen Akutpsychiatrischen Aufnahmestation am Klinikum am Weissenhof, Zentrum für Psychiatrie Weinsberg und ist dort auch Personalratsvorsitzende.
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