Mehr von uns ist besser für alle – unter diesem Motto mobilisieren Krankenhausbeschäftigte schon seit einigen Jahren für Entlastung. Das ist durchaus doppeldeutig gemeint: Eine bessere Personalbesetzung hilft allen, die jetzt oder in Zukunft auf eine gute Krankenversorgung angewiesen sind. Und: Mehr Gewerkschaftsmitglieder sind die Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf um bessere Arbeitsbedingungen. In beiderlei Hinsicht macht die Berliner Krankenhausbewegung von sich Reden. Die Beschäftigten von Charité, Vivantes und ihrer Tochterunternehmen haben ein 100-Tage-Ultimatum gestellt und verlangen zum einen einen Tarifvertrag Entlastung sowie zum anderen die Bezahlung aller Beschäftigten nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Im Zuge der Kampagne sind schon 1.000 Beschäftigte der Gewerkschaft ver.di beigetreten. Wir stellen das tausendste neue Mitglied vor: die Gesundheits- und Krankenpflegerin Jessica Hoffmann aus dem Vivantes Humboldt-Klinikum in Berlin-Reinickendorf.
Zwischen Dauer-Nachtschicht und absoluter Leere
Zehn Jahre hat Jessica Hoffmann nach ihrem Examen 2009 in der Rettungsstelle des Humboldt-Klinikums gearbeitet. „Eine Katastrophe“ seien die Zustände dort. Die Schichten waren ständig unterbesetzt, ausscheidendes Personal wurde nicht oder viel zu spät ersetzt, hinzu kamen der Drei-Schicht-Betrieb und mindestens zwei Wochenenddienste im Monat. „Ich halte viel aus, aber das war selbst mir irgendwann zu viel“, berichtet die 35-Jährige. „So leer“ habe sie sich nach der Arbeit gefühlt, dass sie den Weg mit dem Auto nach Hause oft gar nicht mitbekam. Das Gefühl, alles unvollständig, nichts richtig gemacht zu haben, fuhr immer mit. 2014 brachte sie ihren Sohn zur Welt. Nach der Elternzeit machte sie Dauer-Nachtschicht, um ihre Arbeit mit den Kita-Zeiten vereinbaren zu können. Irgendwann konnte sie nicht mehr.
Selbstzweifel – Doch der Fehler liegt im System
„Am Anfang denkt man, man schafft das irgendwie“, sagt Jessica Hoffmann heute. „Dann fängt man an zu zweifeln – erstmal an sich selbst. Habe ich zu wenig Ausgleich? Muss ich etwas anders machen? Doch dann merkt man, dass der Fehler im System liegt.“ Schließlich wechselte sie ihren Job, obwohl die Arbeit in der Rettungsstelle ihr sehr viel Spaß gemacht hat. Um nicht „kaputtzugehen“, wie sie sagt. Seit etwa zwei Jahren arbeitet sie in der Anästhesie. Auch hier ist es manchmal hektisch, fehlt es an Personal. Aber kein Vergleich zur Rettungsstelle.
„Es fehlte der letzte Schubs“
Ihr persönlich geht es seither etwas besser. Warum sie gerade jetzt anfängt, sich für Entlastung zu engagieren? „Für die anderen. Ich sehe ja, wie abgehetzt die Kolleginnen auf den Stationen, in der Rettungsstelle und den anderen Abteilungen sind. In den letzten zwei Jahren ist es mit Corona nochmal schlimmer geworden. Jetzt reicht es uns.“ Damit geliebäugelt, bei ver.di einzutreten, habe sie in den vergangenen Jahren immer wieder. „Aber es fehlte der letzte Schubs.“ So richtig habe sie auch nicht geglaubt, dass sie und ihre Kolleg*innen wirklich etwas ändern könnten. Im Zuge der Berliner Krankenhausbewegung hat sie Mut geschöpft. „Wenn wir uns zusammenschließen und Dampf machen, haben wir die Chance, tatsächlich etwas zu bewegen“, ist die Krankenpflegerin überzeugt. Die Corona-Pandemie habe die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Krankenhäuser gelenkt. „Das kann uns helfen – jetzt oder nie.“
Doch es dürften nicht nur Einzelne aktiv werden. „Nur wenn die Mehrheit mitzieht, kommt der Druck oben an!“ Und tatsächlich haben sich 8.397 Beschäftigte von Charité, Vivantes und Tochterunternehmen per Unterschrift dem Ultimatum angeschlossen und erklärt, sich am Streik zu beteiligen, falls es bis zum 20. August 2021 am Verhandlungstisch keine Bewegung gibt – 63 Prozent all derjenigen, die von den geforderten Tarifverträgen profitieren würden. An der Übergabe der Petition am »Tag der Pflegenden«, dem 12. Mai 2021, konnte die Krankenpflegerin nicht teilnehmen. Doch kurz darauf war sie bei einer Kundgebung vor dem Rathaus Reinickendorf dabei – ihre erste gewerkschaftliche und politische Aktion überhaupt. „Vielleicht hätte ich schon früher bei Protesten mitgemacht, aber ich habe vieles gar nicht mitbekommen. Jetzt mit der Berliner Krankenhausbewegung passiert viel mehr, das reißt einen mit.“
„Eine gute Gesundheitsversorgung finde ich einfach nur selbstverständlich.“
Genervt ist die 35-Jährige von Politiker*innen, die im Wahlkampf so tun, als hätten sie schon ganz viel für die Pflege getan. „Das können sie sich sparen“, findet Jessica Hoffmann. „Es hat sich trotz allem Gerede bisher nichts verbessert – im Gegenteil.“ Ist sie darüber wütend? Macht es sie traurig? Eher fassungslos. „Eine gute Gesundheitsversorgung finde ich einfach nur selbstverständlich“, sagt sie. „Ich kann nicht verstehen, warum es so schwer sein soll, das umzusetzen. Die Gesundheit ist doch das wichtigste. Dass sie das nicht sehen, ist fast schon lächerlich irgendwie.“
Dennoch rechnet die Krankenpflegerin mit einer harten Auseinandersetzung. Das zeige schon die einstweilige Verfügung, mit der die Vivantes-Spitze den ersten Warnstreik für Entlastung am 8. und 9. Juli 2021 vom Arbeitsgericht verbieten ließ. Damit habe das Klinikmanagement ein Signal der Konfrontation ausgesandt, meint Jessica Hoffmann. Deshalb stellt sie sich auf einen Arbeitskampf ein. Ob sie Bedenken hat, die Patient*innen im Streik allein zu lassen? „Ganz und gar nicht.“ Zum einen sorge die Gewerkschaft über Notdienste dafür, dass Notfälle in jedem Fall versorgt werden. Zum anderen gehe es letztlich um das Wohl der Patientinnen und Patienten, die nur mit genug Personal gut gepflegt werden könnten.
„Einfach mega, dass alle zusammenstehen.“
„Richtig toll“ findet Jessica Hoffmann, dass sich in der Berliner Krankenhausbewegung so viele Menschen engagieren. Erstmals bekomme sie etwas über die Situation in anderen Kliniken mit. So trafen sich beim Warnstreik Delegierte zum Beispiel aus den Anästhesien und Rettungsstellen konzernübergreifend, um gemeinsame Forderungen zu entwickeln. „Dass nicht jeder sein eigenes Süppchen kocht, sondern alle zusammenstehen, ist einfach mega“, sagt sie. „Ein tolles Gefühl.“
Das gilt auch für die Kolleg*innen, die nicht in den Kliniken, sondern in Tochtergesellschaften angestellt sind. „Ich wusste zwar, dass sie schlechter dran sind, aber nicht, wie immens das ist“, so die Krankenpflegerin. Dass Beschäftigte tarifloser Tochterfirmen für die gleiche Arbeit mehrere hundert Euro weniger verdienen als ihre Kolleg*innen in den Muttergesellschaften, ist für sie „eine Frechheit“. „Jeder normale Mensch sieht ein, dass gleiche Arbeit gleich bezahlt werden muss. Doch in den öffentlichen Kliniken Berlins ist das nicht so – unfassbar.“
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