Mein Name ist Lisa, ich bin 39 Jahre alt, ausgebildete Ergotherapeutin und arbeite mit Menschen mit Behinderungen. Ich bin bei einer Werkstatt als Fachkraft zur Arbeits- und Berufsförderung angestellt. Im Berufsbildungsbereich betreue ich Teilnehmer*innen zwei Jahre lang bei ihrer beruflichen Bildung.

In meiner Abteilung lernen meine Teilnehmer*innen allerlei Bürotätigkeiten wie das Vorprüfen von Rechnungen, Buchrücken abzuschreiben und Bücher zu digitalisieren. Zusätzlich habe ich noch eine Fachleitungsstelle für ein Rehabilitations-Planungselement im Haus und arbeite im Rahmen dieser Stelle am Konzept unserer Einrichtung mit.

Ich habe mich im Beruf immer wieder für Menschen entschieden

Ich habe mich sehr bewusst dafür entschieden mit Menschen zu arbeiten. Und das über meine Berufsjahre immer wieder aufs Neue. Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr in der Persönlichen Assistenz habe ich die Ausbildung zur Ergotherapeutin gemacht. Neun Jahre habe ich dann mit Kindern in der Neuropädiatrie gearbeitet und danach ein Jahr auf einer Wach-Koma-Station. Jetzt begleite ich seit weiteren neun Jahren Menschen, deren Leben völlig auf dem Kopf steht, dabei, eine neue Perspektive für sich zu entwickeln. Diese Arbeit ist unheimlich vielfältig und macht mir einfach Spaß.

Die Menschen, mit denen ich hier arbeite, haben alle einen erworbenen Hirnschaden. Das bedeutet, dass sie in irgendeiner Form einen Schicksalsschlag erlitten und so eine Hirnschädigung erfahren haben – z.B. durch einen Autounfall, einen Schlaganfall oder eine andere neurologische Störung.

Früher haben sie alle auf dem ersten Arbeitsmarkt gearbeitet. Bei manchen Menschen ist die Beeinträchtigung auch nach der medizinischen Rehabilitation immer noch so groß, dass sie nicht mehr auf dem „normalen“ Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Dann kommen sie zu uns in die Werkstätten. Hier verbringen sie ihren Arbeitstag von 7:30 Uhr bis 15:15 Uhr. Danach fahren sie in ihre Wohngruppe oder die eigenen vier Wände. . 

Personalschlüssel der Werkstättenverordnung: ein schlechter Witz

In meiner Abteilung arbeiten wir momentan zu zweit. Meine Kollegin und ich leiten jeweils eine Gruppe mit sechs bis acht Teilnehmer*innen. Ich bin also als Fachkraft allein für bis zu acht Teilnehmer*innen verantwortlich. Das reicht hinten und vorne nicht zu, entspricht aber tatsächlich den Vorgaben in der Werkstättenverordnung. 

Wir haben zwar noch eine Sozialpädagogin, die 20 Stunden in der Woche bei uns arbeitet, aber sie ist überwiegend mit Planungs- und Koordinierungsaufgaben beschäftigt.

Krank in die Arbeit wegen chronischer Unterbesetzung  

Im Arbeitsalltag ist es für meine Kollegin und mich ein echtes Problem, sobald eine von uns beiden nicht da sein kann. Denn dann ist die andere oft allein für beide Gruppen zuständig. In der Praxis sieht es nicht selten so aus, dass die Vertretung selbst schon eine andere Gruppe betreut. Wenn meine Kollegin dann im Urlaub ist oder krank wird, muss ich die doppelte Anzahl Menschen betreuen als die Zahl, die im Personalschlüssel vorgesehen ist.

Übers Jahr haben wir sechs Wochen Urlaub und man kann davon ausgehen, dass jemand im Jahr etwa zwei Wochen krank ist. Im Klartext bedeutet das also, dass ich mindestens zwei Monate im Jahr für bis zu 16 Teilnehmerinnen allein verantwortlich bin. Etwa weitere zwei Monate im Jahr hat meine Kollegin dann das gleiche Problem, wenn ich im Urlaub bin oder mein Kind oder ich krank sind. Das geht echt gar nicht. 

Ich weiß, dass es eigentlich keine Lösung ist und in diesen Zeiten richtig gefährlich, aber diese ständige Unterbesetzung führt dazu, dass ich manchmal krank zur Arbeit gehe. Denn ich will meine Kollegin nicht noch häufiger allein lassen. Ich habe sonst ein schlechtes Gewissen. Mit meiner Fachleitungsstelle und der konzeptionellen Arbeit bin ich ohnehin schon etwa fünf Stunden pro Woche nicht im Gruppendienst. Auch in dieser Zeit vertritt mich meine Kollegin.

Soziale Berufe: Selbstausbeutung vs. innere Kündigung

Hinzu kommt: Ich bin alleinerziehend und habe freitags immer frei. Ich brauche die Zeit für meine Familie. Meine Kollegin muss also jeden Freitag meine Gruppe mitbetreuen. Und das ist einfach eine beschissene Situation für sie, anders kann ich es nicht sagen. Denn wir müssen uns ja – wie gesagt – gegenseitig vertreten. Weil ich den Zustand für sie unzumutbar finde, ziehe ich jetzt ganz persönlich Konsequenzen – allerdings in die falsche Richtung, das weiß ich selbst – in Richtung noch mehr Selbstausbeutung. 

Ab März stocke ich meine Schichten deshalb auf und arbeite freitags wieder. Aus Verantwortungsgefühl für unsere Teilnehmer*innen und für meine Kollegin. Gleichzeitig weiß ich: Das ist nicht gut für meine Gesundheit und nicht gut für meine Familie.

Ich erwische mich manchmal dabei, dass so eine Art Fatalismus aufkommt und ich denke: „Ok, ich mache nur noch das Nötigste, keinen Handschlag mehr!“ Dabei leiste ich eigentlich total viel und arbeite gerne. Aber für mich beruht ein Arbeitsverhältnis auf Gegenseitigkeit. Wenn ich das Gefühl habe, meine Einsatzbereitschaft wird ausgenutzt, weil ja immer alles irgendwie funktioniert, dann führt das bei mir dazu, dass ich innerlich blockiere. Da kommen Gedanken auf wie „Dann lassen wir den Betrieb eben gegen die Wand fahren“. Natürlich ziehe ich das dann doch nicht durch, denn darunter leiden ja vor allem unsere Teilnehmer*innen.

Im Notfall bin ich allein – auch mit den Schuldgefühlen

An den Tagen, an denen wir allein für zwei Gruppen verantwortlich sind, ist es sehr schwierig, Pause zu machen oder auf die Toilette zu gehen. Weil immer eine Fachkraft zur Aufsicht anwesend sein muss, dürfen wir die Werkstatträume eigentlich nicht verlassen. Ich bin dann also permanent verantwortlich. Acht Stunden lang für bis zu 16 Menschen. Und unsere Teilnehmer*innen haben häufiger mal einen epileptischen Anfall oder stürzen. 

Dazu kommt, dass die beiden Gruppen nicht in einem Raum sind. Ich laufe also permanent zwischen zwei Räumen hin und her. Immer mit der Frage im Kopf, was gerade im anderen Raum passiert. In einem Notfall dann alleine zu sein, ist ehrlich gesagt, ein richtig blödes Gefühl. Zum Glück reagiere ich im ersten Moment immer auf Auto-Pilot. Danach frage ich mich schon manchmal, ob der *die Teilnehmer*in auch gestürzt wäre, wenn genug Personal da gewesen wäre. Manchmal kommen in mir dann Schuldgefühle auf, weil ich nicht da war, als es passiert ist.  

Seltener gibt es aber auch ruhige Tage, an denen nicht so viele Teilnehmer*innen in die Einrichtung kommen. Die genieße ich, denn ich kann richtig fachlich mit meinen Teilnehmer*innen arbeiten. Ohne diese Tage würde man den Druck dauerhaft gar nicht aushalten.

Überlastungsanzeige als emotionale Entlastung 

Inzwischen schreibe ich konsequent und sofort eine Überlastungsanzeige, wenn ich morgens zum Dienst komme und merke, dass ich alleine bin. Die schicke ich an meinen Vorgesetzten und den Betriebsrat. Dann können die sich überlegen, ob sie in der Kürze der Zeit etwas ändern können. Dabei habe ich nicht in erster Linie Angst vor rechtlichen oder arbeitsrechtlichen Konsequenzen.

Die Überlastungsanzeige entlastet mich vor allem emotional. Wenn ich gleich zu Beginn des Tages offiziell mitteile, dass ich die Verantwortung für den Personalmangel und eventuelle Folgen nicht übernehme, hilft das zwar den Teilnehmer*innen noch nicht, aber mir. Es fällt mir dann etwas leichter, eine professionelle emotionale Distanz aufzubauen. Damit ich solche Situationen nicht mit nach Hause nehme, muss ich mich irgendwie abgrenzen.

Wenig Personal bedeutet wenig fachliche Anleitung 

An so einem Tag kann es natürlich trotz Überlastungsanzeige zu einer Notfallsituation kommen. Mit all den negativen Gefühlen, die darauf folgen. Zum Glück sind wir in unserer Einrichtung über die Abteilungen hinweg ein Team, das zusammenhält und zuhört. Wir fangen uns gegenseitig auf, sind füreinander da, reden miteinander über solche Momente, die wir alle kennen. Da fühle ich mich gut aufgehoben. Einmal die Woche können wir auch eine kollegiale Supervision in Anspruch nehmen. 

Unter unseren Arbeitsbedingungen leiden natürlich unsere Teilnehmer*innen. Denn sie erhalten nicht die berufliche Anleitung, wie sie sie mit ausreichend Personal bekommen könnten. Das ärgert mich am meisten. Die Menschen in der schwächsten Position müssen die Missstände ausbaden. Denn die Teilnehmer*innen können ihren Frust darüber, dass nur eine Fachkraft da ist, bei niemandem loswerden. 

Corona im Werkstatt-Alltag = weniger fachliche Arbeit

Durch Corona haben wir noch mal weniger Zeit für unsere Teilnehmer*innen. So hat die Dokumentation unserer Tätigkeiten, die ohnehin schon viel Zeit in Anspruch nimmt, seit der Pandemie tierisch zu genommen. Am Anfang mussten wir einmal die Woche, inzwischen einmal im Monat nachweisen, dass wir die Teilnehmer*innen in hygienischen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz unterweisen.

Aktuell müssen wir zweimal in der Woche bei allen Teilnehmer*innen einen Corona-Schnelltest durchführen und das natürlich auch dokumentieren. Die zusätzliche Dokumentation und die Testbeaufsichtigung kosten mich etwa 30 Minuten, die mir für die direkte Arbeit mit den Teilnehmer*innen fehlen. 

Wenn ich zum Beispiel eine Teilnehmerin beim Digitalisieren von Büchern anleite, ist es wichtig, dass ich wirklich daneben sitze. Auch Menschen, die sich nicht mehr viel merken können, können das erlernen. Es geht dabei um die Automatisierung von Abläufen. Die Teilnehmerin lernt anhand der immer gleichen Wiederholung von Arbeitsabläufen, die ich anleite.

Wenn ich nicht so viel Zeit habe, kann die Teilnehmerin weniger fehlerfreie Durchläufe der Aufgabe absolvieren und braucht länger, um den Arbeitsablauf zu lernen. Es kann auch passieren, dass sich beim Erlernen dieser automatischen Abläufe ein Fehler einschleicht, wenn es keine ausreichende Begleitung gibt. 

Und das führt zu erheblichem Frust bei den Teilnehmer*innen, denn es kostet richtig viel Zeit, einen Fehler im Ablauf wieder abzutrainieren. Häufig kommt es dann zu Tränenausbrüchen und größeren Identitätszweifeln. Diese Momente gehören für mich zu den schwierigsten Situationen in meinem Beruf. Und seit Corona durchleben die Teilnehmer*innen häufiger persönliche Krisen als vorher. 

Corona-Pandemie: die Nerven liegen blank – bei allen

Wir müssen unsere Teilnehmer*innen auch immer wieder darauf hinweisen, ihre Masken richtig zu tragen. Aber manche Teilnehmer*innen haben überhaupt keinen Bock auf Maske und sind richtig genervt. Ich werde dann viel angemeckert. In meinem Beruf ist das relativ normal, weil viele Menschen mit Frontalhirnschäden Impuls-Kontroll-Störungen haben. Wenn ich eine*n Teilnehmer*in kritisiere, wird oft zurück gepöbelt oder auch geschrien. Beschimpfungen wie z.B. ´“Du alte Schlampe“` sind nicht ungewöhnlich. Das hat durch Corona nicht unbedingt zugenommen, aber die Gründe sind eben neu. An diese neuen Situationen mussten wir uns erst gewöhnen.

Zu Beginn der Pandemie war die Angst vor einer Ansteckung bei uns allen – also bei Beschäftigten UND Teilnehmer*innen – extrem groß. Besonders im letzten Jahr, zur unschönen Corona-Hochphase rund um die Delta-Variante, waren viele Kolleg*innen erkrankt und sind ausgefallen. Teilweise mussten die Betriebsleitungen im Gruppendienst einspringen und Doppelgruppen übernehmen. Wir konnten selbst mit der Vertretungsregelung nicht mehr genügend Fachkräfte zur Betreuung der Teilnehmer*innen aufbringen.

Inzwischen ist der Umgang mit Corona zwar etwas entspannter und routinierter geworden, besonders weil bei uns alle geimpft sind. Aber auch in der Omikron-Welle sind wieder Kolleg*innen erkrankt. Zu wissen, dass ich bei einer Corona-Erkrankung meiner Kollegin dann voraussichtlich mehrere Wochen zwei Gruppen betreuen müsste, strengt mich unheimlich an. Da brauche ich mich nur an die Urlaubsvertretungen zu erinnern. Teilweise komme ich morgens kaum aus dem Bett, weil der Arbeitstag vor mir liegt wie ein Berg – eine Arbeitsmenge, die man eigentlich unmöglich bewältigen kann. Das gilt besonders dann, wenn in einer Gruppe herausfordernde Teilnehmer*innen sind. 

Und durch Corona haben wir ja ohnehin tägliche Mehrarbeit. Wir müssen z.B. alle Arbeitsflächen abwischen, das ist eine Arbeit, die wir vorher nicht in dem Umfang hatten. Und auch unseren Teilnehmer*innen zu erklären, weshalb wir das jetzt machen und welche Oberflächen womit gereinigt werden dürfen, kostet Zeit. Mit einer Teilnehmerin hatte ich zum Beispiel sehr häufig Auseinandersetzungen, weil sie aus Angst vor einer Ansteckung ihren Bildschirm und ihr Telefon kaputt desinfiziert hat.  

Es muss sich in der Behindertenhilfe dringend etwas ändern

Um so arbeiten zu können, wie ich es für sinnvoll halte, muss sich unbedingt etwas ändern. Wir brauchen dringend mehr Personal, damit wir qualitativ hochwertiger arbeiten können und mehr Zeit für und mit den Menschen haben. Von der aktuellen Tarifrunde erwarte ich deshalb Entlastung, damit die Arbeit in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen wieder attraktiver wird.

Und wir brauchen mehr Urlaub! Denn die Arbeit mit Menschen und deren Schicksalen ist herausfordernd. Die emotionale Belastung, der wir in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung und in allen anderen Sozialen Berufen ausgesetzt sind, wird definitiv unterbewertet. 

Insgesamt erfährt die Arbeit in allen sozialen Berufen immer noch nicht ausreichend Wertschätzung. Wir müssen uns genau jetzt alle gemeinsam für unsere Berufsgruppen stark machen. Deswegen bin ich auch ver.di-Mitglied und vor allem: streikbereit, wenn es sein muss. Genauso wie meine Kolleg*innen bei mir im Betrieb. 

Du arbeitest ebenfalls in einem Sozial- und Erziehungsberuf und möchtest dich in der Tarifrunde 2022 engagieren? Hier findest du alle Infos, wie du dich einbringen kannst. Du möchtest mehr darüber lesen, wie es deinen Kolleg*innen in den Sozial- und Erziehungsdiensten geht?

Das erste und das letzte Bild zeigen Lisa, die beiden anderen sind beispielhaft und haben nichts mit ihrer Arbeit zu tun.

2 thoughts on “Lisa, Fachkraft zur Arbeits- und Berufsförderung in der Behindertenhilfe: „Die ständige Unterbesetzung führt dazu, dass ich krank zur Arbeit gehe“

  • 4. März 2022 um 18:16
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    Meine Erfahrung ist das man als schwerbehinderter Mensch in der öffentlichen Verwaltung diskriminiert und ausgebeutet wird. Leider ist es so, wenn man auch bei Verdi um Hilfe schreit, hier dir auch keiner besteht. Große Töne spucken bringt auch nichts. Steht euren Mitgliedern bei, besonders Diesen, welche eh schon Einschränkungen haben.

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  • 7. März 2022 um 23:28
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    Meine beiden Töchter arbeiten ebenfalls in einer Werkstatt. Aus ihren Erzählungen kann ich jeden Kritikpunkt nur bestätigen. Der Personalschlüssel muss als erstes verändert werden, aber ebenso die Bezahlung. Urlaubs- und Krankheitsvertretung müssen gewährleistet sein und im Personalschlüssel auftauchen.

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