Mein Name ist Ina, ich bin 55 Jahre alt und arbeite seit 33 Jahren bei einem Blinden- und Sehbehindertenverein. Dort betreue ich schwerstmehrfachbehinderte Erwachsene, die zudem blind oder sehbeeinträchtigt sind. Das ist ein sehr sensibler Bereich. Insgesamt betreibt der Verein fünf Wohneinheiten mit unterschiedlichen Schwerpunkten und zwei Werkstätten. Ich bin langjährige Teamleiterin und teilweise freigestellte Betriebsrats-Vorsitzende.

Als Erzieherin in die Behindertenhilfe

Als gelernte Erzieherin bin ich eher durch Zufall in der Behindertenhilfe gelandet. In meiner Ausbildung konnte ich damals den Schwerpunkt „Heim“ wählen. Ich habe also schon in meiner Ausbildung viel mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen gearbeitet. Die Arbeit mit den ganz kleinen Kindern war noch nie wirklich meins. Deswegen finde ich, dass ich immer noch genau richtig bin, dort, wo ich seit über 30 Jahren bin. Ich bekomme von den Menschen, die ich betreue, unseren Klient*innen, auch unwahrscheinlich viel zurück. Die Arbeit ist jeden Tag anders und deshalb sehr spannend.

Seit zwei Jahren leite ich gemeinsam mit einer Kollegin eine kleine Wohneinheit mit 17 Klient*innen, die auf insgesamt drei Etagen wohnen. Wir beide übernehmen die Dienstplanung, die Hilfeplanung und viele weitere organisatorische Aufgaben. Diese Doppelspitze finde ich super, weil ich mich immer mit meiner Kollegin austauschen kann. Wenn Probleme auftauchen, muss ich nicht alles allein verantworten. Und Probleme gibt es besonders seit der Pandemie mehr als genug.

Meine Aufgaben: Gestaltung des Tagesablaufs

Unsere Klient*innen kommen in der Regel zu uns nach ihrer Ausbildung. Die meisten von ihnen werden bei uns auch alt. Als Fachkraft gestalte ich den gesamten Tagesablauf gemeinsam mit den Bewohner*innen. Ich wecke sie morgens und gebe dort, wo es nötig ist, Hilfestellung bei der Grundpflege. Wenn alle fertig sind, gibt es in kleinen Gruppen Frühstück. Dabei nehme ich auf die unterschiedlichsten individuellen Bedürfnisse und Vorlieben Rücksicht. Manche unserer Klient*innen erhalten ihre Nahrung per Sonde, anderen führe ich beim Brötchenschmieren die Hand. Nach dem Frühstück werden die Bewohner*innen dann zur Arbeit in die Werkstatt begleitet oder machen sich mit Hilfe eines Blindenleitsystems selbstständig auf den Weg. 

Während die meisten Klient*innen auf der Arbeit sind, erledige ich administrative Aufgaben wie die Dienstplangestaltung oder organisiere Arztbesuche und Ähnliches. Nachmittags übernehme ich die Freizeitgestaltung. Vor der Pandemie sind wir beispielsweise schwimmen oder kegeln gegangen. In den letzten beiden Jahren haben wir uns immer wieder etwas Besonderes einfallen lassen. Wir haben zum Beispiel einen eigenen Kirmeswagen aufgestellt, als der offizielle Weihnachtsmarkt wegen Corona abgesagt wurde. Nachmittags ist auch die Zeit, den Kontakt mit den Angehörigen zu pflegen.

Nach dem Abendbrot gibt es meist noch eine gemeinsame Aktivität. Nach der Vergabe der Medikamente lese ich z.B. etwas vor oder wir hören gemeinsam ein Hörspiel. Bei uns herrscht also eher eine familiäre Atmosphäre. Über diese lange Zeit entsteht – bei aller Professionalität – aber auch eine persönliche Bindung. Ich kann schon sagen, dass die Menschen mir sehr am Herzen liegen. 

Fremd- und Eigengefährdung der Kient*innen als Teil des Berufsalltags

Unsere Klient*innen sind in ihren kognitiven Leistungen stark eingeschränkt, da sie auch geistig behindert sind. Wie in jedem Haushalt gibt es auch unter den Bewohner*innen Konflikte, bei deren Lösung ich unterstütze. Es ist sehr wichtig, die Stimmungen der Klient*innen zu erkennen, um psychische Ausnahmesituationen frühzeitig wahrzunehmen und noch rechtzeitig gegensteuern zu können. Je nach Hilfebedarf muss ich dann sehr flexibel reagieren und dabei immer berücksichtigen, wer welche Fähigkeiten hat. Neben einer guten Beobachtungsgabe brauche ich in meinem Beruf auch viel Empathie. Wenn mir das nicht gelingt, kann es sehr schnell sehr unangenehm werden.

Denn die Bewohner*innen sind erwachsene Menschen und haben entsprechend viel Kraft. Bei einem Wutausbruch fliegen nicht selten Sachen durch die Gegend, das kann gefährlich werden. Blinde können ja nicht sehen, ob gerade jemand im Weg steht. Ein paar Mal ist es passiert, dass jemand übergriffig wurde, mich festgehalten hat. Außerdem besteht immer auch die Gefahr der Eigen- und Fremdverletzung – zum Beispiel durch Beißen oder Kratzen. Als ich lange Haare hatte, musste ich immer aufpassen, dass niemand versucht, mir an den Haaren zu ziehen. Und vor einiger Zeit ging meine Brille zu Bruch, als ich unglücklich hinter einer Klientin stand, die mit ihrem Kopf um sich geschlagen hat.

Ich fange gerade an, Gefährdungen, die von den Klient*innen für andere oder sich selbst ausgehen, zu analysieren und zu listen. Dies liefert die Grundlage, um den tatsächlichen Betreuungsbedarf für jede*n Einzelne*n zu ermitteln. Das ist ganz wichtig, denn diese Menschen benötigen dringend einen höheren Stellenschlüssel.

Corona macht den Klient*innen Angst

Der Beginn der Pandemie hat uns als Team vor weitere Herausforderungen gestellt. Am Anfang mussten die Klient*innen in ihren Zimmern bleiben und durften ihre Angehörigen nicht sehen. Da ist bei vielen die Angst entstanden, ob ihre Eltern sie überhaupt noch mal abholen. Dazu kam die Angst vor der Krankheit. Die Menschen, die ich betreue, verstehen nicht genau, was draußen vorgeht. Ich habe ihnen die Pandemie und alle notwendigen Maßnahmen auf eine Art erklärt, wie ich es auch Kindern erklären würde.

Und wie Kinder reißen sich unsere Klient*innen die Masken aus dem Gesicht, wenn sie sie z.B. bei einem Arztbesuch doch mal tragen müssen. Wir Beschäftigten tragen aber natürlich rund um die Uhr eine Maske, wenn wir in der Wohneinheit arbeiten. Diesen Bruch mit dem eigentlich familiären Rahmen verstehen die Bewohner*innen nicht und leiden auch nach zwei Jahren immer noch darunter. 

Dazu kommt, dass viele der Klient*innen, die an Corona erkrankt waren, sich verändert haben. Einige haben sich in ihrer Entwicklung zurückgebildet, sie sind langsamer geworden und ihre kognitiven Leistungen haben abgenommen. Darauf müssen wir zusätzlich Rücksicht nehmen.

Corona-Ausbruch in der Einrichtung: Ich bin ausgebrannt

Den schlimmsten Corona-Ausbruch gab es in unseren Einrichtungen im Februar 2021. Da war plötzlich keiner mehr da. Von unseren Mitarbeiter*innen hatte sich die Hälfte mit Corona infiziert. Eine der wenigen gesunden Beschäftigten war ich. In der gesamten Einrichtung hatten wir etwa 100 Infizierte inklusive der Angehörigen, das war echt heftig.

Auch in unserer Wohneinheit waren viele Klient*innen erkrankt. Corona war auf zwei der drei Etagen ausgebrochen. Ich habe in der Zeit viele Nachtschichten übernommen und war für alle drei Etagen allein zuständig. Das bedeutete nicht nur ein ständiges Hoch- und Runterlaufen zwischen den Stockwerken, sondern immer auch das An- und Ausziehen des Vollschutzes. Das war unheimlich anstrengend. Den Fahrstuhl durften wir aus Infektionsschutzgründen nicht benutzen. Ich habe neben der ganz normalen Nachtaufsicht auch pflegerische Tätigkeiten übernommen: Fieber messen, Sauerstoffwerte überprüfen, dafür sorgen, dass die Bewohner*innen ausreichend trinken und ihre Medikamente nehmen. 

In solchen Schichten habe ich total vergessen, selbst zwischendurch etwas zu trinken oder zu essen. Ich bin so viel hin und her gerannt, dass mir die Knochen wehtaten und mir der Magen in den Kniekehlen hing. Ich war, ehrlich gesagt, ziemlich durch und für jede*n dankbar, die/ der freiwillig weitere Dienste übernommen hat. Dabei haben wir alle in der Zeit ohnehin unfassbar viele Überstunden angehäuft. Ich hatte das Gefühl kaum zu Hause zu sein, habe meine privaten Sachen nicht mehr geregelt bekommen. Meine Familie hat sich richtig Sorgen gemacht, weil ich mich an meinen wenigen freien Tagen einfach eingeigelt habe. 

Dringend notwendig: gesetzlicher Stellenschlüssel für Wohneinheiten

Wenn mein Arbeitgeber mich in der Teamleiter*innen-Runde fragt, wieso eine bestimmte Sache im Arbeitsalltag nicht geklappt hat, sage ich ihm die Wahrheit: Die Leute sind ausgebrannt, wir schaffen es nicht mehr mit dem vorhandenen Personal. Denn das ist mir wichtig: Den Druck, den ich von oben bekomme, möchte ich nicht nach unten weitergeben! Solche Situationen nicht an mich heranzulassen, ist nicht immer leicht für mich. Aber ich bin schon lange genug im Dienst, um mir nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Dieses Selbstbewusstsein habe ich mir hart erarbeitet.

Damit wir so arbeiten können, dass es unserer Ausbildung, dem Leitbild unserer Einrichtung und dazu meinem persönlichen Anspruch an die Arbeit in diesem sensiblen Bereich entspricht, muss etwas passieren. Ich wünsche mir einen gesetzlichen Stellenschlüssel für die Wohnstätten, der auf realistischen Grundlagen fußt und sich am tatsächlichen Hilfe- und Betreuungsbedarf der Bewohner*innen orientiert. Dabei muss auch die Zusammensetzung der Wohngruppe berücksichtigt werden. Denn die Arbeit hat sich über die Jahre verändert. Inzwischen betreuen wir immer mehr schwerstmehrfach behinderte Menschen in einer Gruppe. 

Die Heimaufsicht schreibt bislang nur vor, dass sich immer eine pflegerische Fachkraft in der gesamten Wohneinheit aufhalten muss. Wir sind aber eine Einrichtung der Wiedereingliederung und keine medizinische Einrichtung, auch die pädagogischen Fachkräfte sind wichtig. Wie viele Mitarbeiter*innen neben der einen pflegerischen Fachkraft sonst im Haus sein müssen, wird von der Heimaufsicht nicht genau definiert. 

Meine Chefin sagt mir immer, dass wir in unserer Wohneinheit zu viele Stundenanteile haben. Dabei bekommen wir kaum den Dienstplan hin. Es kann also eigentlich gar nicht sein, dass wir zu viele Mitarbeiter*innen haben. Wir sind eher zu wenige. Wenn ich wirklich individuell mit den Menschen arbeiten möchte, um die Selbstbestimmung der Klient*innen zu fördern, dann brauche ich vor allem eins: Zeit, ausreichend Personal und die nötige Muße. Und all das haben wir momentan überhaupt nicht. Die Arbeit ist eine Lauferei und eine Hetzerei, auch innerlich. 

Personalmangel: Unsere Klient*innen verlernen ihre Fähigkeiten 

Dazu kommt: Auch viele von uns Kolleg*innen haben aufgrund des enormen Stresslevels verlernt, so zu arbeiten, dass die Selbstbestimmung unserer Klient*innen im Fokus steht. Das muss man leider so klar sagen. Ich bin manchmal so damit beschäftigt, mein Pensum irgendwie zu schaffen, dass ich darüber vergesse, warum ich eigentlich da bin. Das frustriert mich wirklich. Aus Gesprächen weiß ich, dass es meinen Kolleg*innen genau so geht.

Einer meiner Klienten braucht beispielsweise etwa 15 Minuten, um sich seinen Pullover selbst anzuziehen. Und dabei muss ich ihn vielleicht auch unterstützen. Ich könnte ihm rein theoretisch den Pulli auch einfach über den Kopf ziehen, dann hätte ich kein Zeitproblem mehr. Aber das ist nicht mein Auftrag und auch nicht mein Anspruch an die Arbeit. Diesem Auftrag gerecht zu werden, wurde in den letzten Jahren immer schwieriger und anstrengender.

Ein anderes Beispiel: Ich war vor einiger Zeit eine Woche nicht in der Wohneinheit. Als ich wiederkam, habe ich festgestellt, dass ein Klient sein Butterbrot nicht mehr alleine schmieren konnte. Dabei war er eine Woche zuvor noch dazu in der Lage gewesen. Er hatte es einfach verlernt, weil jemand aus dem Team ihm seine Brote zubereitet hatte. Schlicht und einfach um Zeit zu sparen. Und das erzähle ich ohne Vorwurf an die Mitarbeiter*innen, sondern um zu verdeutlichen, welche Auswirkungen unsere Arbeitsbedingungen und unser Stress auf die Bewohner*innen haben. Das ist nur ein Beispiel von vielen, die ich erzählen könnte.

Dieser absolute Ausnahmezustand hielt insgesamt ungefähr einen Monat an. Das war eine harte Zeit. Immer wenn ich dachte, jetzt wird es etwas besser, ging alles wieder von vorne los. Einige Kolleg*innen kamen z.B. nicht direkt wieder, weil sie Long-Covid-Symptome hatten. Das hat bei mir die Angst verstärkt, mich selbst anzustecken. Dazu kam, dass ich ständig meine freien Tage und meinen Urlaub schieben musste. Das ging natürlich dem ganzen Team so, aber irgendwann war bei mir einfach die Luft raus.

Überstunden? – (leider wirklich) Geschenkt!

Aber noch mal zurück zu den sehr vielen Überstunden, die wir alle in dieser heftigen Corona-Zeit angesammelt haben. Wir haben da einfach Unglaubliches geleistet. Nachdem sich die Lage ein halbes Jahr später etwas beruhigt hatte, wurden wir von der Geschäftsleitung aufgefordert, die Überstunden endlich mal abzubauen. Verbunden mit der Frage, wie so viele Überstunden überhaupt entstehen konnten. Das hat mich in all der Zeit wirklich am meisten geärgert. Da konnte ich meinem Chef gegenüber nicht mehr freundlich reagieren.

Eine Kollegin hatte zum Beispiel elf Nächte hintereinander gearbeitet, das ist doch ein unfassbarer Einsatz, ohne den wir nicht durch diese Corona-Phase gekommen wären. Und natürlich kann ich die Kollegin jetzt aktuell aus den Dienstplänen rausnehmen. Aber was dann? Sie fehlt ganz einfach, denn wir bekommen ja kein zusätzliches Personal. Es macht mich unheimlich sauer. Es zieht mich runter, dass unser Einsatz von der Leitung so schnell wieder vergessen wurde.

Ausgezahlt werden die Überstunden bei uns übrigens nicht mehr, wir müssen sie also „abfeiern“. Aber das ist im Alltag überhaupt nicht möglich. Jetzt bin ich zum Beispiel auf Kur, da können meine Kolleg*innen ihre Überstunden nicht nehmen. Und dann wird ja auch mal jemand krank und den uns zustehenden Urlaub gibt es ja auch noch. Die Auszeit, die wir alle verdient hätten, ist letztendlich nicht machbar, weil das Personal nicht da ist. 

Tarifrunde 2022: Ich brauche Entlastung!

Ich muss das ganz klar sagen: Ich bin ausgebrannt. Mir ist die Anstrengung im wahrsten Sinne des Wortes auf den Magen und auf die Galle geschlagen. Mein Arzt hat mir gesagt, dass ich dringend eine Auszeit brauche. Die habe ich zum Glück bekommen. Gerade bin ich auf Kur in Bayern und hoffe, dass ich aus dem hetzigen Hamsterrad aussteigen kann. 

Grundsätzlich möchte ich danach aber weiter in meinem Job arbeiten. Ich liebe meine Arbeit ja eigentlich. Allerdings muss ich ein paar Dinge ändern und mehr auf mich achten, zum Beispiel regelmäßiger und mit mehr Zeit essen, ausreichend schlafen, mehr Sport treiben, in der Freizeit nicht an die Arbeit denken, solche Sachen. Wie ich das im Alltag mit dem Schichtdienst genau hinbekommen kann, werde ich in der Kur hoffentlich lernen. Noch besser wäre es allerdings, wenn wir langfristig einen besseren Personalschlüssel erreichen.

Du arbeitest ebenfalls in einem Sozial- und Erziehungsberuf und möchtest dich in der Tarifrunde 2022 engagieren? Hier findest du alle Infos, wie du dich einbringen kannst. Du möchtest mehr lesen, wie es deinen Kolleg*innen in den Sozial- und Erziehungsdiensten geht?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert