ver.di: Hallo Serdal, herzlich willkommen. Wer bist du?
Serdal: Ich heiße Serdal Sardas und bin 32 Jahre alt. Seit 2019 arbeite ich bei Amazon im Verteilzentrum Wunstorf. Bis vor Kurzem war ich „Operation Supervisor“ bzw. Teamleiter, seit einem Jahr in der Frühschicht und dort war ich verantwortlich für die „Touren“. Das bedeutet: Wir sorgen dafür, dass die Pakete, die die Zusteller*innen im Lauf des Vormittags abholen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zur Abholung bereit liegen. Ich habe die Personaleinsatzplanung gemacht und war außerdem verantwortlich für die Arbeitssicherheit. Davor habe ich zwei Jahre in der Nachtschicht gearbeitet. Im Moment sind wir bei uns im Zentrum um die 200 Beschäftigte, saisonal sind es mehr.
Mittleierweile bin ich freigestellter Betriebsratsvorsitzender des ersten Betriebsrats in einem Amazon-Verteilzentrum in Deutschland, vielleicht in Europa (laut der PR von Amazon gibt es bereits in Italien einen Betriebsrat in einem Verteilzentrum).
Erste Erfahrungen mit Mitbestimmung bei der Bundeswehr
ver.di: Darüber wollen wir sprechen. Aber schnell noch ein Rückblick auf deine Person. Was hast du denn gemacht, bevor du bei Amazon angefangen hast?
Serdal: Gelernt habe ich Bürokaufmann, dann habe ich eine Weiterbildung zum technischen Fachwirt gemacht. Das ist eine Mischung aus Industriemeister und Wirtschaftsfachwirt. Ich bin Spezialist für technische Angelegenheiten und Kaufmännisches auf Meisterebene. Die Industrie hat gemerkt: Ingenieure sind zu teuer und haben kein kaufmännisches Wissen, das aber manchmal gebraucht wird. Deswegen gibt es diese Ausbildung.
Die Aus- und Weiterbildung habe ich während meiner Dienstzeit von acht Jahren bei der Bundeswehr abgeschlossen. Hier habe ich auch meine ersten Erfahrungen mit Interessenvertretung gemacht. Ich war vier Jahre lang Vertrauensperson für meine Dienstgradgruppe – übrigens hat die Vertrauensperson beim Bund über das Soldatenbeteiligungsgesetz teilweise mehr Rechte als ein Betriebsrat!
Ich bin außerdem SPD-Mitglied und eigentlich auch im Ortsverein und bei den Jusos aktiv. Aber das liegt wegen der Betriebsratsarbeit gerade ein bisschen auf Eis.
Amazon-Verteilzentrum: Vorbereitung für „die letzte Meile“
ver.di: Verständlich, dass die Betriebsratsarbeit gerade vorgeht. Vielleicht erst mal zum Grundverständnis: Welche Rolle spielen denn die Verteilzentren in der Versandkette von Amazon?
Serdal: Früher wurden die Amazon-Bestellungen über bestehende Postzustelldienste ausgeliefert. Amazon hat es sich dann zum Ziel gesetzt, die Zustellung selbst zu übernehmen und so die Kosten in der letzten Meile zu senken. Verteilzentren gibt es in Deutschland seit 2015.
In den Verteilzentren sind wir das vorletzte Glied in der Kette. Bei uns werden die Pakete auf die sogenannte „letzte Meile“, also die Auslieferung vorbereitet.
Wenn du bei Amazon etwas bestellst, wird deine Bestellung in einem sogenannten Fullfillmentcenter zusammengestellt und geht dann in Sortier- oder Logistikzentren (Sortcenter) und dort aus zu uns. Bei komplizierten Bestellungen, wenn sich zum Beispiel verschiedene Artikel an unterschiedlichen Standorten befinden, kann es sein, dass ein Paket bereits mehrere Stationen hinter sich hat, wenn es zu uns kommt.
Wir im Verteilzentrum stellen die Touren für die Fahrer*innen zusammen, die die Pakete an der Haustür zustellen. Es ist aber auch die letzte Möglichkeit zur Qualitätssicherung und die letzte Möglichkeit, stornierte Pakete aus dem Versand zu nehmen, bevor sie ausgeliefert werden. Das spart Kosten und dem Auslieferer einen Stopp.
Im Drei-Schicht-System perfekt durchgetaktet
Um zu verstehen, was wir in der Frühschicht machen, musst du die gesamten Abläufe bei uns kennen. Wir haben lange im Drei-Schicht-System gearbeitet. Zuletzt haben wir auf ein Vier-Schicht-System umgestellt. Neben der Nachtschicht gibt es jetzt eine sogenannte „Hybridschicht“, die die Früh- und Spätschicht unterstützt. Das bedeutet: Diese Mitarbeiter*innen starten um halb sechs Uhr morgens und arbeiten bis um 9:00 mit den Kolleg*innen der „Night“ zusammen. Nach der Pause arbeiten sie dann im zweiten Teil ihrer Schicht zusammen mit der Frühschicht.
Wenn es nach den Bestellungen geht, fängt unser „Zyklus“ in der Nacht an. In der Nacht werden nämlich die Bestellungen aus den Sortierzentren per LKW bei uns angeliefert und entladen und unserem System, dem sogenannten „Induct“, zugeführt.
Im Induct werden die Pakete gelabelt, das heißt sie bekommen einen Aufdruck, auf dem genau steht, wohin sie sortiert werden müssen. Anschließend kommen sie aufs Band und werden von dort auf sogenannte „Finger“, verschiedenen Arbeitsstraßen, verteilt. Von den Picker*innen werden sie vom Band in die Regale gelegt, von dort ordnen „Stower“ die Pakete in sogenannte „Taschen“.
Die „Taschen“ musst du dir als kleinere Ladeeinheiten vorstellen. Sie befinden sich in verschiedenen „Arbeitsstraßen“, auf Regalen, die von beiden Seiten erreichbar sind. In einem Gang befinden sich zweimal 48 Taschen, jeweils auf beiden Seiten des Gangs. Die Info, welches Paket in welche Tasche muss, erhalten die Kolleginnen und Kollegen über den Scanner, das wichtigste Arbeitsgerät im Lager.
Pick & Stage: letzte Vorbereitung für „die letzte Meile“
Von da übernimmt die Frühschicht. Als erste Handlung nach Arbeitsbeginn starte ich morgens das Routing. Das bedeutet: Ein Algorithmus stellt die Touren für die Fahrer zusammen. Jeder Route wird eine „Stage“ oder Fläche in unseren Hallen zugewiesen. Dort holen der Fahrer oder die Fahrerin die Ladung für ihre Tour ab. Ihre Stages werden den Fahrer*innen über die App, die sie auf ihrem Telefon haben, automatisch zugeteilt. Das Routing wird übrigens nicht bei uns gemacht, sondern kommt von internationalen Kolleg*innen, denen Ich morgens übermittle: „Hey, ihr könnt jetzt anfangen!“
Die Kolleg*innen im Lager bekommen dann auf ihren Scanner gespielt, zu welchen Flächen sie die Taschen mit den Bestellungen bringen müssen. Der Scanner erkennt übrigens automatisch, ob eine Tasche gerade an der falschen Fläche abgelegt wird und macht eine Meldung. So werden Fehler minimiert.
ver.di: Diese Scanner sind ja sehr umstritten, weil die Kolleg*innen so bei jedem Arbeitsschritt kontrolliert werden können … wie geht es weiter?
Serdal: Die Kolleg*innen picken die Taschen, packen sie auf Carts und transportieren sie zu den „Stages“. Das heißt im Amazon-Jargon entsprechend „Pick & Stage“, der ganze Vorgang ist die „Pick Operation“.
Zwischen diesen letzten Schritten werden von den Problemsolvern nebenbei täglich bis zu zwanzig stornierte Pakete rausgezogen. Der Aufwand lohnt sich, weil so der Rückversand und die ganzen Prozesse, die daran hängen, eingespart werden. Gegen halb elf beginnt bei uns das „Loading“.
Das Loading: rein und raus in acht Minuten!
Nicht alle Kolleginnen und Kollegen in der Frühschicht arbeiten im Lager. Die sogenannten „Yard Marshals“ befinden sich im Außenbereich. Der erste Yard Marshal steht in der Einfahrt und kontrolliert die „Delivery Associates“ – das ist die Amazon-Bezeichnung für die Paketfahrer*innen – und deren Wagen. Die Fahrerinnen müssen Sicherheitsweste und -schuhe vorweisen und den Badge vorzeigen, der sie zur Einfahrt auf die „Waiting Area“ berechtigt. Auch die Fahrzeuge werden kontrolliert.
Dieses „Vehicle Audit“ kannst du dir vorstellen wie eine Art TÜV light. Wenn der Wagen Mängel aufweist, wird das Fahrzeug gesperrt. Bei leichten Mängeln, wenn zum Beispiel der Blinker nicht funktioniert, hat der Fahrer die Möglichkeit, die Schäden an der Tankstelle gegenüber zu beheben und dann noch mal einzufahren.
ver.di: Und das kommt auch vor?
Serdal: Ja, bestimmt einmal am Tag mindestens.
ver.di: Wie viele Fahrer*innen sind das denn, die zum Loading kommen? Wie habe ich mir das vorzustellen?
Serdal: Wir verladen täglich mehrere hundert Touren. Dazu muss man wissen: Unser Gelände ist nach meinem Kenntnisstand die größte Fläche, die ein Amazon-Verteilzentrum in Europa hat. Wir haben zwei Hallen, die nach Subunternehmen aufgeteilt sind. Das bedeutet, dass die Fahrer*innen von Subunternehmen A zum Beispiel immer vor Halle 1 fahren, die von Subunternehmen B immer vor Halle 2. Bei uns können parallel über achtzig Fahrzeuge ins Loading einfahren.
Die Fahrer*innen sind in „Wellen“ eingeteilt. Die erste Welle fährt um 10.40 Uhr zum „Loading“ ein, die letzte Welle kommt um 12.40 Uhr. Das Loading beginnt, wenn der Yard Marshal innen am Eingang den Fahrer*innen ein Zeichen gibt. Daraufhin fahren die Wagen in Siebenerreihen ein. Bis zu achtzig Vans können auf einmal einfahren.
Bei einem erneuten Go vom Yard Marshal steigen die Fahrer*innen aus und holen ihre Touren. Jede*r Zusteller*in bekommt je nach Liefergebiet bis zu neun Taschen zugewiesen. Zielvorgabe für uns ist, dass das Loading nach acht Minuten abgeschlossen ist – was wir in der Regel auch schaffen. Zwei weitere Yard Marshals im sogenannten Exit koordinieren danach die Ausfahrt der Vans.
Die Spätschicht: Vorbereitung für die Nachtschicht
ver.di: Über den Loading-Prozess und „Vehicle Audit“ aus Sicht der prekären Fahrer*innen haben wir auch schon mal geschrieben. Aber bleiben wir bei euren Arbeitsprozessen – was macht ihr nach dem Loading?
Serdal: Wenn die Fahrer*innen durch sind, werden die leeren Taschen von den Picker*innen wieder ausgelegt, zurück in die Regale. Das dauert meist bis zum Feierabend der Part-Timer gegen 13.30 Uhr. Mit den verbleibenden Kolleginnen und Kollegen räumen wir die Halle auf, prüfen die Arbeitssicherheit für die nächsten Schichten, füllen die Repack Area mit Füllpapier oder Kartonagen auf oder reinigen die Scanner.
ver.di: Und was sind dann die Aufgaben der Spätschicht?
Serdal: Die Spätschicht ist hauptsächlich für die Rückkommissionierung zuständig. Das heißt: Nach Beendigung ihrer Schicht kommen die Fahrer*innen zurück und geben die leeren Taschen zurück. Am besten ist es, wenn bei der Abgabe ein kurzes Feedbackgespräch, das sogenannte debrief, möglich ist. Die Kolleg*innen nehmen außerdem erste Pakete für die Nachtschicht an, so dass die Nachtschicht sofort loslegen kann, und setzen die Wegmarkierungen für die Fahrer*innen.
Im Verteilzentrum gibt es noch eine wichtige Abteilung im Amazon-Universum, nämlich das „Onroad Management“: Diese Abteilung ist die Verbindungsstelle zu den Subunternehmen, die die Fahrer*innen beschäftigen. Ein*e Kolleg*in trainiert die Fahrer*innen, einige andere machen das Risk Monitoring – bedeutet: Er oder sie weiß immer, ob der Fahrer*in im Zeitziel ist. Hängt jemand mit der Auslieferung nach, können „Rescues“ – andere Fahrer*innen, die in der Nähe sind – zur Entlastung eingesetzt werden. Das Team weiß, wo Stau ist, und gibt diese Info an Fahrer*innen weiter. Die Kolleg*innen sind auch Ansprechpartner bei beschädigten Paketen und bearbeiten die sogenannten Beschwerdetickets.
Amazon-Bewerbung: doch mehr als ein Jux
ver.di: Ich habe verstanden, wie ihr arbeitet. Die Grenzen zwischen der Optimierung und Angleichung von Abläufen und totaler Überwachung der beschäftigten Menschen sind fließend. Aber noch mal zu dir: Wie bist du eigentlich zu Amazon gekommen?
Serdal: Ich bin im Dezember 2018 aus der Bundeswehr ausgeschieden. Danach habe ich eine Bewerbung nach der anderen geschrieben, aber ich wurde nie zu Gesprächen eingeladen – trotz der guten Ausbildungen. Bei Amazon kam sofort eine positive Rückmeldung. Dabei war die Bewerbung anfangs eher ein Jux. Ich hatte nicht ernsthaft vor, dort zu arbeiten.
Zu der Zeit war ich bei uns im Unterbezirk gerade Juso-Covorsitzender und ich erinnere mich, dass wir gerade Sommerfest hatten. Ich weiß noch: Die Genossen fanden das kritisch, dass ich mich dort bewerbe. Sie meinten dann: „Wenn du wirklich da arbeiten solltest, musst du mindestens einen Betriebsrat gründen.“
Es gibt noch so eine Anekdote: Im Januar 2020 – da war ich dann ja schon in der Nachtschicht – hatte ich bei einer Juso-Veranstaltung die Möglichkeit, mit unserem Ministerpräsidenten Stefan Weil zu sprechen. Ich hatte eine Frage an ihn und habe mich vorgestellt. Als er hörte, dass ich bei Amazon bin, meinte er auch als Erstes: „Du, was ihr bei Amazon erst einmal braucht, ist ein Betriebsrat!“ Damals hätte ich nicht gedacht, dass ich das wirklich machen werde. (lacht)
Amazon als Arbeitgeber: gemischte Gefühle
Eins muss ich sagen: Trotz aller Kritik, die ich an sehr vielen Stellen gegenüber meinem Arbeitgeber habe, habe ich erlebt, dass Amazon vielen Menschen eine Chance gibt. Mir selbst ging es ein bisschen so und so habe ich es auch in meiner Rolle als Teamleiter gesehen. Es gab Mitarbeiter*innen, die hatte ich schon aufgegeben, da meinte das Management zu mir: Versuch die Person mal auf einer anderen Position! Ich war überrascht, wie gut das sehr oft geklappt hat! Deswegen: Aus meiner Sicht ist Amazon nicht nur „schlecht“ – sie sind lange nicht der beste Arbeitgeber, wie sie selbst behaupten –, aber ich selbst erlebe es nicht nur ausschließlich negativ, wie viele sagen.
Zum Beispiel habe ich in der Probezeit einige größere Fehler gemacht, Abläufe verhauen, die einen kompletten Tagesablauf durcheinandergebracht haben. Tausende Pakete sind zurückgekommen, weil ich einen Delay erzeugt habe, eine Verzögerung von drei Stunden, das war ein riesiges Chaos. Der Standortleiter meinte nur: „Und? – Hast du was aus der Sache gelernt?“ – und danach war die Geschichte vergessen. So eine positive Fehlerkultur kannte ich bis dahin nicht.
Befristungen oder Arbeitszeiten: Viele Gründe für einen Betriebsrat
ver.di: Okay, wir haben bisher anderes von Amazon gehört, nämlich dass sie eher abhängige Menschen „verbrauchen“, als dass sie ihnen eine Chance geben. Umso neugieriger bin ich aber jetzt, was dann der Auslöser für dich war, den Betriebsrat zu gründen?
Serdal: Es gab nicht den einen großen Grund für die Betriebsratsgründung. Es waren eher viele kleine Nadelstiche, die dafür gesorgt haben, dass ich mir gesagt habe: „Okay, vielleicht ist jetzt der Moment für betriebliche Mitbestimmung gekommen!“
Zu dem Zeitpunkt wurden viele Mitarbeiter*innen sehr kurzfristig immer wieder von einer Schicht in die andere versetzt. Gefühlt haben die Arbeitszeiten alle drei Wochen gewechselt. Der Ton des Managements gegenüber den Kolleginnen und Kollegen war nicht kollegial und Anliegen der Kolleg*innen, auch drängende, wurden nur halbherzig bearbeitet.
ver.di: Kannst du mir ein Beispiel nennen?
Serdal: Ja klar, gerne. Die meisten in der Frühschicht sind in Teilzeit. Das sind Studierende, Alleinerziehende und Leute, die sich etwas dazu verdienen wollen. Ein großes Thema bei ihnen ist die Befristung. Die meisten bei uns sind befristet. Es dauert ja fast drei Jahre, bis man – wenn überhaupt – einen Festvertrag bekommt. Die meisten kommen in den ersten neun Monaten über eine Leiharbeitsfirma. Dann kommt die erste Befristung über ein Jahr, und dann die zweite, noch mal zwölf Monate. Bei nicht wenigen hängt an dem Job die gesamte Existenz, viele sind hier auf Arbeitsvisum oder Duldung. Das Bleiberecht hängt von ihrer Arbeit ab. Diese unsichere Situation ist sehr belastend für die Kolleg*innen.
Wenn so ein Vertrag ausläuft, dauern die internen Prozesse viel zu lange. Teilweise haben Mitarbeiter*innen erst ein paar Tage vor Ablauf ihres Vertrags erfahren, dass sie nicht verlängert werden. Das ist für sie natürlich eine Katastrophe – zumal wenn ihr restliches Leben davon abhängt.
Die Betriebsratsgründung – fast ein Krimi
ver.di: Wie ging es mit der Betriebsratsgründung weiter?
Serdal: Ich habe dann begonnen, Kolleg*innen anzusprechen, von denen ich annahm, dass sie ähnlich ticken wie ich. Dazu muss man sagen, dass es zu der Zeit zwei Gruppen gab, die parallel versucht haben, einen Betriebsrat zu gründen. Als ich das erste Mal mit ver.di in Kontakt getreten bin, meinte unser Gewerkschaftssekretär Dietmar: „Bevor du etwas unternimmst, solltest du wissen: Da ist noch was in der Pipeline bei euch. Es gibt noch jemanden, der einen Betriebsrat gründen möchte.“ Ich wusste gleich, wer das sein könnte, weil der Kollege schon mal eine Betriebsratsgründung versucht hatte, damals damit aber gescheitert war.
Ich habe den betreffenden Kollegen, meinen heutigen Stellvertreter Uwe, angerufen und ihm gesagt: „Du, ich bin auch ver.di-Mitglied, ich hab‘ ne Truppe zusammen, ich habe gehört, du auch. Lass‘ uns zusammentun!“ Das haben wir gemacht und das hatte unter anderem den Vorteil, dass wir genügend Leute waren, um unsere befristeten Kolleginnen und Kollegen erst mal aus der Schusslinie zu nehmen.
Es wurde dann aber doch noch abenteuerlich. Wir haben spontan herausgefunden, dass unsere Betriebsrats-Chatgruppe geleakt worden war. Jetzt musste alles ganz schnell gehen, denn wir wussten ja nicht genau, was die Arbeitgeber jetzt wussten, ob sie die Namen der befristeten Kolleg*innen kannten.
Dietmar hat uns schon vorgewarnt, was passieren würde, wenn die Geschäftsleitung von unserem Vorhaben erfahren würde – dass es Gespräche geben würde und dass sie versuchen würden, uns um den Finger wickeln. So war es dann auch.
Nur zwei Tage später gab es ein Gespräch zwischen der Geschäftsleitung und mir. Sie taten so, als wüssten sie von nichts und machten stattdessen auf einmal so auf: Wir kümmern uns um euch, wir nehmen uns Zeit für deine Probleme … Sie bezogen sich in dem Gespräch auf kleinere Probleme aus Teamleitertreffen von anno dunnebacke, die ich mal gemeldet und schon fast vergessen hatte, weil nie was darauf passiert war. Bei diesen Treffen hatte die damalige Niederlassungsleiterin immer mitgeschrieben. Jetzt wusste ich dann ja, wofür es gut war (lacht).
Dann war klar: Der Betriebsrat kommt!
Zu der Zeit der Betriebsratsgründung hat gerade ein neuer Niederlassungsleiter angefangen, der rhetorisch sehr geschickt ist. Er war auch bei unserem ersten Zusammentreffen sehr gut vorbereitet. Ich habe bemerkt, wie er sogar seine Vita angepasst hat, um eine Connection zu mir herzustellen. Zum Beispiel hat er immer wieder betont, dass er wie ich bei Bundeswehr war.
Er hat dann versucht mich einzuwickeln, so nach dem Motto: „Du, in der Politik gibt es die berühmt-berüchtigten ersten hundert Tage – was sind denn eure Erwartungen an mich?“ und kam dann um die Ecke mit: „Es gibt Gerüchte, dass Leute einen Betriebsrat gründen wollen. Warum, glaubst du, gibt es diese Gerüchte?“ Er hat dann betont, dass er in der Vergangenheit schon mit Betriebsräten zusammengearbeitet hätte.
Ich habe ihm dann Beispiele gebracht, warum wir – rein hypothetisch natürlich (lacht) – einen Betriebsrat brauchen könnten; zum Beispiel das von dem alleinerziehenden Vater, der von einem Tag auf den anderen in die Spätschicht versetzt wurde – mit der Ansage: „Gib doch deine Tochter zu Freunden!“ Ich glaube, nach unserem Gespräch war ihm klar: Der Betriebsrat kommt!
Wenige Tage nach dem Termin haben wir dann den Aushang zur Wahlversammlung gemacht und eine Woche nach dem Gespräch fand die Wahl des Wahlvorstands statt.
Ein starkes Mandat dank hoher Wahlbeteiligung
ver.di: Gab es im weiteren Verlauf der Wahlen noch Behinderungen durch den Arbeitgeber?
Serdal: Vereinzelte Führungskräfte waren sauer, dass wir im Wahlkampf Amazon-kritische Flyer verteilt haben. Sie haben Mitarbeiter, die Flugblätter genommen haben, abgefangen und die Flyer fotografiert. Als Vorsitzender des Wahlvorstands habe ich den Niederlassungsleiter darauf angesprochen, dass dieser oder jene Manager das zu unterlassen hat und dass sein Handeln strafbar ist.
Unser Niederlassungsleiter ist daraufhin in jede Schicht gegangen und hat gesagt: „Geht wählen! Ihr dürft euer Engagement auch zeigen, ihr dürft ver.di-Shirts tragen und ver.di beitreten.“ Das hat uns mit Sicherheit geholfen. Wir hatten eine richtig hohe Wahlbeteiligung von 78 Prozent.
Ich bin bis heute total gerührt: Einzelne Kolleg*innen haben sogar ihren Urlaub abgebrochen, um an der Wahl teilzunehmen, viele haben extra Briefwahl gemacht. Für uns ist das toll. Wir haben mit dem Ergebnis ein starkes Mandat aus der Belegschaft.
ver.di: Wie haben die Kolleginnen und Kollegen euer Vorhaben aufgenommen?
Serdal: Bevor wir die Listen ausgehangen haben, gab es Gerüchte, unsere Liste bestünde hauptsächlich aus Führungskräften, weil Uwe und ich Teamleiter sind. Aber das stimmt nicht, im Gegenteil, unsere Liste ist sehr gemischt. Tatsächlich gab es dann aber wirklich noch eine weitere Liste, die fast ausschließlich aus Führungskräften bestand.
Davon ab: Mit der Betriebsratsgründung habe ich meine persönlichen Karriereabsichten bei Amazon sowieso abgehakt. Nicht schlimm, denn kurz vor der Betriebsratsgründung wollte ich eigentlich kündigen, weil ich mich nicht mehr herausgefordert gefühlt habe. Ich hatte schon einen Arbeitsvertrag zuhause liegen, mit besserer Entlohnung, und den wollte ich auch unterschreiben, aber dann meinten die anderen: Ohne dich ziehen wir das wahrscheinlich nicht durch! Da bin ich geblieben.
Von null auf hundert in Sachen betriebliche Mitbestimmung
ver.di: Über mangelnde Herausforderungen kannst du jetzt sicher nicht mehr klagen … Das führt zu der Frage: Wie ist der Betriebsrat aufgestellt und wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber jetzt?
Serdal: Wir sind ein neunköpfiges Gremium, sechs von uns kommen von der Gewerkschaftsliste. Unsere erste Aufgabe besteht erst mal darin, Know-how aufzubauen. Es gibt nur eine Person mit Betriebsratserfahrung, eines unserer Ersatzmitglieder. Der Kollege ist gerade ganz wichtig, weil er uns da berät, wo wir noch keine Erfahrung haben. Wir machen außerdem alle Schulungen und Lehrgänge.
Uwe und ich machen aber auch zusätzlich noch sehr viel in unserer Freizeit, lesen Fachliteratur. Damit hatten wir bis jetzt auch einen Wissensvorsprung vor unseren Führungskräften, die im Umgang mit Betriebsräten gänzlich unerfahren sind. Jetzt haben sie aber ganz aktuell jemanden im Management eingestellt, mit Erfahrung mit Betriebsrat. Wir haben direkt die Ansage gemacht: Wenn ihr mit Union Busting kommt, dann stellen wir uns dagegen.
Erste Erfolgserlebnisse mit dem neuen Betriebsrat
ver.di: Hattet ihr denn schon Erfolge? – Gerade für einen neuen Betriebsrat, der auf die Unterstützung der Belegschaft angewiesen ist, ist schnelle Sichtbarkeit ja wichtig.
Serdal: Ich glaube schon, dass es uns gut gelungen ist, den Betriebsrat unter den Kolleg*innen bekannt zu machen. Das erste Erfolgserlebnis hatten wir ganz am Anfang in den eigenen Reihen. So wurde einem Betriebsratsmitglied damit gedroht, nicht entfristet zu werden. Bis zur Entfristung haben wir dann ausnahmslos alle Leiharbeiter*innen abgelehnt. Wir konnten das auch gut begründen, denn das ist ja nicht mal wirtschaftlich und dazu eine Benachteiligung der bestehenden Belegschaft. Mittlerweile haben wir den Fight gewonnen. Der Kollege ist mit Unterstützung von super engagierten Gewerkschaftssekretär*innen entfristet worden. (lacht)
Erst vor Kurzem haben wir eine Betriebsversammlung einberufen und haben dort von unseren Erfolgen berichtet. Was soll ich sagen (lacht)? – Am nächsten Tag haben uns die Kolleginnen und Kollegen die Türen eingerannt. Sobald jemand ging, kam der oder die nächste. Wir helfen gerade viel, was den Schriftverkehr mit der Personalabteilung angeht. Die Kolleg*innen sind da sehr dankbar.
Was den Arbeitgeber betrifft: Amazon hat nachträglich die Betriebsratswahl angefochten. Das ist Standard. Sie gehen immer denselben Weg über die Größe des Gremiums. Bei uns ist das Gremium zu groß, ihrer Meinung nach.
ver.di: Was bedeutet das? Was sind eure nächsten Schritte?
Serdal: Im ersten Schritt wird es einen sogenannten Gütetermin geben. Die Anwälte beider Seiten kommen zusammen und tragen ihre Meinungen vor. Danach geht es vors Gericht. Aber ich bin guter Dinge, dass es für uns gut ausgeht.
Vernetzung & Wissen teilen: mehr Betriebsräte für Amazon
ver.di: Was sind eure nächsten Schritte? Gibt es etwas, dass du erreichen möchtest. Was wünschst du dir
Serdal: Meine Vision ist, dass der Konzern seinem selbst gesetzten Leadership Principle, der beste Arbeitgeber der Welt zu sein, gerecht wird! Davon sind wir allerdings noch ein gutes Stück entfernt.
Und tatsächlich arbeiten wir gerade an der Vernetzung mit anderen Betriebsrät*innen in Amazon, in Deutschland, aber auch mit dem international vernetzten Amazon Arbeiter*innen Kollektiv. Und wir waren auch schon dabei, als Anfang August der erste ersten europäische Betriebsrat in Amazon gewählt wurde. Gerade fanden in einigen anderen deutschen Verteilzentren Betriebsratswahlen statt, dafür haben wir unser Wissen gerne geteilt.
Aber im Alltag steht ansonsten gerade die konkrete Arbeit im Betrieb im Mittelpunkt. Wir bauen den Betriebsrat gerade richtig auf, leisten Pionierarbeit. Das macht großen Spaß. Auch wenn manche Führungskräfte nicht aufhören, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen: Mir ist das egal. Ich möchte etwas verändern und habe keine Angst vor Auseinandersetzungen. Ich bin gespannt, was noch auf uns zu kommt.
ver.di: Alles Gute und viel Kraft für die Auseinandersetzung mit deinem Arbeitgeber! Vielen Dank, Serdal, das du dir Zeit für uns genommen hast!
Erfahrt mehr über unsere Arbeit bei Amazon. Wir kämpfen für Tarifverträge und bessere Arbeitsbedingungen.
Hier erfährst du mehr über die Arbeitsbedingungen im Amazon-Fullfilmentcenter und hier, unter welchen Bedingungen die Amazon-Fahrer*Innen auf der letzten Meile arbeiten.
Vielen Dank für dieses Interview, das ein bisschen etwas vom Kampf David gegen Goliath hat und gleichzeitig so viele persönliche Einblicke offenbart. Tatsächlich lässt es mich gewissermaßen ratlos zurück, in der Überlegung, wie ich mich als Kunde dazu verhalte. Tatsache ist ja, das Amazon aus Kundensicht quasi alles richtig macht. Damit verbindet man automatisch ein offenes Unternehmen. Dass zwei Realitäten quasi aufeinanderprallen ist sehr desillusionierend. Aber irgendeinem Punkt in der Hierarchie wird es aber bekanntermaßen bei allen großen Betrieben „ungemütlich“. Was auch der Ausflug in den Fehler während der Probezeit aufzeigt. Als gewerkschaftlich interessierter Mensch habe ich das Drama um Amazon ohnehin gebannt verfolgt – und muss sagen: Respekt für diesen Schritt und das Engagement. Dass du nun durch die BR-Gründung deine Karrierechancen im Betrieb ad acta gelegt hast, kann ich verstehen.
In meinem Betrieb (Versicherungsgesellschaft) sagte man mir früh, dass das ein Way-Of-No-Return würde, wenn man sich als BR gegen verschiedene Anwandlungen der Geschäftsführung stellt. Wie so oft. Umso mehr, also auch aus dieser Perspektive, voller Respekt für dich und euer Gremium.
Danke für die Einblicke!