Psychodruck auf Beschäftigte mit Kindern – bis sie in Existenznot geraten und viele von ihnen kündigen. Diese Geschichten von Flugbegleiter*innen hört Antje Dieterich vom Digital Organizing Projekt bei ver.di für Ryanair-Beschäftigte immer öfter.
Ryanair: Angst als Unternehmenswert
ver.di: Hallo Antje, herzlich willkommen. Ryanair ist berüchtigt für den rauen Umgang mit den Beschäftigten. Kannst du das Unternehmen aus deinen Erfahrungen beschreiben?
Antje: Ryanair ist die größte Airline-Gruppe in Europa. Das Unternehmen ist durch und durch nach einem neoliberalen Ideal ausgerichtet. Es ist dort alles darauf ausgelegt, die Kosten niedrig zu halten und Outsourcing über die hauseigene Leiharbeitsfirma zu betreiben.
Es wird versucht, so viel wie rechtlich möglich über den Hauptsitz in Dublin zu organisieren. Am Anfang hatten die Kolleg*innen an den deutschen Standorten sogar irische Arbeitsverträge, haben aber hier Steuern gezahlt. Das führte im Alltag zu Problemen, zum Beispiel beim Arztbesuch. Vor allem aber galt für sie das deutsche Arbeitsrecht nicht. 2019 haben sie erfolgreich für deutsche Arbeitsverträge gestreikt, die vom deutschen Arbeitsrecht erfasst sind.
Was seine Unternehmenskultur betrifft, soll der CEO auf die Frage, was diese ausmache, mit „Angst“ geantwortet haben – und alles deutet darauf hin, dass der Billigflieger auch entsprechend agiert.
Die Kostenschraube immer weiter anziehen
Antje Dieterich ist seit 2022 im Digital Organizing Projekt in der ver.di Kampagne bei Ryanair tätig. Sie hat in der Vergangenheit Pressearbeit gemacht und in Organizing-Projekten gearbeitet. Vor ver.di war sie bei der Senatsverwaltung für Justiz.
ver.di: Wie macht Ryanair denn bei den niedrigen Ticketpreisen Gewinne?
Antje: Viele Stellschrauben für höhere Gewinne im Flugverkehr gibt es nicht, denn die meisten Komponenten sind auf europäischer Ebene (EASA) festgeschrieben. Einsparungen können vor allem an den Gebühren, die die Airline an die Flughäfen zahlt, und zu einem sehr geringen Anteil an den Löhnen gemacht werden. Außerdem werden möglichst viele Umläufe am Tag geflogen.
Um die Flugpreise niedrig zu halten, werden die Flughäfen unter Druck gesetzt, oft mit dem Argument, sich sonst ganz zurückzuziehen. Und diese Drohung ist real: Es ist Ryanair tatsächlich möglich, Standorte innerhalb von zwei bis drei Monaten zu schließen, wenn ihnen die Bedingungen nicht passen. Die Beschäftigten werden dann an einen anderen Flughafen verlegt..
ver.di: Hatte die Corona-Zeit einen Einfluss aufs Geschäftsgebaren …?
Antje: Nach Corona ist es noch schlimmer geworden. Ryanair ist besonders schnell zurückgekommen und hat einen noch härteren Verdrängungswettbewerb gestartet.
Zusammenfassend kann man sagen: Der Konzern gilt als sehr berechnend, sehr kalt und hat eine große Marktmacht. Leider gilt auch: Für die Branche ist Ryanair Trendsetter. Was dort passiert, machen die anderen nach – wenn auch auf augenscheinlich auf höherem Niveau. Das Agieren von Ryanair zersetzt Standards.
Niedriglöhne für eine junge prekäre Klientel
ver.di: Wer sind die Leute, die für ein solches Unternehmen arbeiten?
Antje: Ryanair setzt auf maximal ausgelastete, meist sehr junge und damit flexible Beschäftigte aus ganz Europa, die ihren Standort oft wechseln. An den Beschäftigtengruppen kann man häufig erkennen, wann die Leute eingestellt wurden, denn Ryanair stellt Personal gerne in Krisenzeiten ein – dort, wo viele junge und gut ausgebildete Leute arbeitslos sind. So war es in Italien, Spanien und Portugal.
In schlechten Zeiten scheinen die etwa 1.400 Euro Grundgehalt erst mal viel. Eine Beschäftigte aus Süditalien hat das mal auf den Punkt gebracht: „Mit dem Festvertrag in der Tasche war ich zuhause die Königin – alle meine Freunde waren arbeitslos.“
Im Moment stößt dieses Modell an Grenzen, weil sich die Arbeitsmarktsituation in ganz Europa verändert hat. Auch Ryanair spürt den Arbeitskräftemangel.
Interne Kommunikation via Copy & Paste
ver.di: Wie ist es, wenn man einmal angestellt ist?
Antje: Die Kommunikation innerhalb der Firma ist katastrophal. Das liegt meiner Einschätzung nach unter anderem auch daran, dass auch die Personalabteilung schlecht eingearbeitet ist. Die Kolleg*innen dort sind zum Beispiel nicht in der Lage, europaweit arbeitsrechtliche Fragen zu beantworten.
Ähnlich wie es Passagiere von Rückerstattungsanträgen bei Ryanair kennen, gibt es ein Anfrage-System, in das die Beschäftigten ihre Probleme posten. Ich habe Antworten gesehen, die lesen sich wie Copy-&-Paste -Versatzstücke. Darunter war auch Kommunikation zu nicht gezahlten Gehältern, die völlig sinnfrei war. So eine Kommunikation führt zu Ermüdungserscheinungen auf beiden Seiten.
ver.di: Das hat natürlich System …
Antje: Man hat ein System geschaffen, in dem sich die Menschen nicht in die Augen sehen. Ich bin überzeugt, wäre es anders, würden auch manche Entscheidungen anders ausfallen.
Der Heimatflughafen als Dienststelle
ver.di: Zum Verständnis: Wo ist eigentlich der „Betriebsort“ von Flugbegleiter*innen, die andauernd unterwegs sind?
Antje: Den Beschäftigten wird jeweils ein Heimatflughafen zugewiesen. In Deutschland hat die Airline sieben dieser Flughäfen, zum Beispiel Berlin oder Weeze an der niederländischen Grenze. Für die Einzelnen setzt das einen Radius für ihr Privatleben, zum Beispiel was die Wohnung angeht. Wegen des Bereitschaftsdienstes müssen Ryanair-Beschäftigte innerhalb von 60 Minuten am Flughafen sein.
In der Regel werden die Kolleg*innen alle paar Jahre versetzt. Grundsätzlich besteht für die Beschäftigten die Möglichkeit, einen Transfer zu ihrem Wunschstandort zu erbitten, der findet dann nur oft nicht statt.
ver.di: Gibt es an diesen sieben Flughäfen Ryanair-Büros? Und wie sind diese Standorte personell ausgestattet?
Antje: Es gibt dort eine sehr schlanke Struktur, bestehend aus um die siebzig Beschäftigten in kleinen Bases und bis zu 300 in großen. Jede Base verfügt über einen weisungsberechtigten Base Supervisor für die Kabine und einem weisungsberechtigten Base Captain für das Cockpit.
Es gibt außerdem einen „Crew Room“, in dem Base Supervisor und Base Captain einen Arbeitsplatz haben und in dem sich die Beschäftigten während der Flughafenschichten aufhalten. Das ist alles.
Immer wieder: Ryanair erkennt Elternzeit nicht an
ver.di: Im Vorgespräch sagtest du, dass Ryanair Eltern diskriminiert. Kannst du beschreiben, in welcher Form das stattfindet.
Antje: Es gibt zum Beispiel zunehmend Fälle, in denen bei Beschäftigten die Elternzeit nicht anerkannt wird. Die Betroffenen erhalten einfach die dafür benötigten Dokument nicht. So können sie den Antrag auf Elterngeld nicht stellen und das bedeutet, dass sie in dieser Zeit auch kein Elterngeld bekommen.
Es geht Ryanair dabei nicht ums Geld, denn das Unternehmen selbst spart an diesen Aktionen keinen Cent. Für die Beschäftigten hingegend ist das fatal, denn bei den Löhnen der Flugbegleiter*innen ist das existenzgefährdend, man hat da keine Rücklagen. Es gibt aber auch andere Formen der Diskriminierung.
Rücksichtslosigkeit als Programm
ver.di: Hast du ein paar Beispiele?
Antje: Nachdem ich im August 2022 angefangen habe mit Ryanair-Beschäftigten zu arbeiten, habe ich nach und nach immer mehr betroffene Eltern kennen gelernt. Die erste Mutter, die zu mir kam, kam gerade aus der Elternzeit. Sie war verpflichtet, nach der Baby-Pause ein Training zu absolvieren, um wieder fliegen zu können.
Der Arbeitgeber beorderte sie zu einem Flughafen in einem anderen europäischen Land – mit nur zwei Wochen Vorlaufzeit. Auf ihren Einwand, dass sie mit Baby da nicht so einfach hinkönne, reagierte der Arbeitgeber nicht. Ich habe – damals noch naiv – hingeschrieben, aber sie haben auf stur geschaltet. Bevor wir etwas unternehmen konnten, hat die entnervte Mutter gekündigt.
Teilzeit unerwünscht
Wenig später: die nächste Mutter. Sie hatte ihr Recht wahrgenommen und ein Teilzeitmodell gewählt. Sie ist nur in der Frühschicht geflogen, jemand anderes hat die Spätschichten übernommen. Die Teilzeitstelle ist einklagbar, nicht aber das Recht auf feste Schichten. Von einer Woche auf die andere wurde die Abmachung vom Arbeitgeber gekippt. Juristisch ist das möglich, aber das macht das Ganze nicht weniger falsch.
Bei der nächsten Mutter, die zu mir kam, wurde die Teilzeit an sich aberkannt. Das ist rechtlich eigentlich nicht möglich. Weil sie die Spätschicht wegen des Babys nicht machen konnte, wurde ihr Nicht-Erscheinen als unentschuldigtes Fehlen gewertet. Auch diese Mutter hat auf Grund des Drucks gekündigt.
Psychodruck während der Schwangerschaft
Wieder eine andere Kollegin musste sich, nachdem sie den Arbeitgeber über ihre Schwangerschaft informiert hatte, täglich acht Stunden lang ohne Aufgaben an ihrem Heimatflughafen im Crew-Raum aufhalten, dort, wo sich die Mannschaften für die Flüge fertigmachen oder Kolleg*innen in Bereitschaft warten, ob sie gebraucht werden. Im Flugverkehr gilt: Wer schwanger ist, darf nicht mehr fliegen. Normalerweise dürfen die angehenden Mütter ab dem Moment zuhause bleiben.
Mehrmals in der Woche wurde ihre Anwesenheit in dem Raum durch Vorgesetzte überprüft. Zusätzlich wurde Druck gemacht durch Kontrollanrufe auf ihrem Handy von Personalmanagern aus ganz Europa, die der Kollegin überhaupt nicht bekannt waren und deren Funktion unklar war. Es war extrem zermürbend, manchmal tagelang allein und ohne Aufgabe in dem Raum zu sitzen. Das ging so über mehrere Monate, bis sie dann plötzlich nach Hause durfte, wie es eigentlich üblich ist.
Wider jedes Arbeitsrecht
Ich weiß von einem Vater, bei dem die Elternzeit von Ryanair nicht anerkannt wird – obwohl sie ihm gesetzlich natürlich zusteht. Er hat die Auszeit fristgerecht angemeldet, aber wie andere nie eine Bestätigung des Arbeitgebers erhalten. Stattdessen wurde moralischer Druck ausgeübt, er sollte lieber an die Fluggäste denken, man wäre enttäuscht von ihm!
Er war dann einer dieser Fälle: Ohne die schriftliche Bestätigung über die Anerkennung der Elternzeit konnte er kein Elterngeld beantragen. Und auch hier: Seit er in Elternzeit ist, steht er trotzdem durchgehend im Dienstplan. Jede Schicht, die er nicht antritt, wird als „No Show“ gewertet. Wir gehen davon aus, dass der Arbeitgeber versuchen wird, ihn nach Ablauf der Elternzeit, die sein Recht ist, zu kündigen. Das sind unhaltbare Zustände.
Das ist nicht der einzige Fall, in dem Ryanair die erforderlichen Dokumente fürs Elterngeld erst Monate später ausstellt. Noch mal: Das ist – gerade bei den Löhnen der Flugbegleiter*innen – hart. Man muss sich mal vorstellen, in welchen finanziellen Druck, in welche Nöte der Arbeitgeber junge Familien bringt!
Ryanair: Alles für maximal flexible Beschäftigte
ver.di: Aber das ist doch alles offensichtlich nicht rechtens …
Antje: Das Recht wird mindestens gebogen, im letzten Fall eindeutig überschritten. Es geht hier vor allem um die Frage, wer die Nerven hat, vor Gericht zu gehen. Das ist jedes Mal ein zäher Prozess mit vielen, vor allem auch emotionalen, Belastungen. Es sind Zermürbungsstrategien, die leider in den meisten Fällen bisher erfolgreich waren.
ver.di: Wenn es bei den meisten dieser Aktionen nicht ums Geld geht – was ist dann das Ziel von Ryanair dahinter?
Antje: Ich denke, es geht darum, den Leuten kein Privatleben zuzugestehen. Nichts soll der Flexibilität im Wege stehen. Das zeigt noch eine weitere Praxis: Partner*innen werden sehr oft unterschiedlichen Bases zugeteilt.
Als ich anfing, gab es da eine Geschichte, die gut zeigt, was ich meine. Einem Elternteil wurde gekündigt. Der Grund: Die Duty-Zeit war vorüber, aber fünf Minuten nach Schichtende hieß es: Du musst noch mal fliegen, weil jemand ausgefallen ist. Junge, ungebundene Leute machen das vielleicht. Das – im Übrigen gewerkschaftlich organisierte – Elternteil weigerte sich mit der Begründung, dass das Kind aus der Kita abgeholt werden musste. Die Sache kam vor Gericht. Es gab nach längerem Rechtsstreit eine Einigung – auch das Mitglied, obwohl im Recht, konnte nicht mehr. Das Nächste, was ich gehört habe, war, dass der Arbeitgeber das vereinbarte Geld erst mal nicht gezahlt hat.
Mit Solidarität und Vernetzung gegen Arbeitsunrecht
ver.di: Was tut ihr gegen dieses Gebaren?
Antje: Die Konsequenz ist, dass wir immer wieder vor Gericht darum kämpfen, dass bestehendes Recht eingehalten wird. Und wir haben beschlossen, dieses Vorgehen an die Öffentlichkeit zu bringen. Denn so müssen wir auf solche Strategien reagieren: mit Vernetzung und Solidarität. Der Moment, in dem du merkst: Das, was nicht funktioniert, bist nicht du, sondern der Grund sind „die“. Wenn wir uns zusammentun, sind wir stark und können gewinnen.
Erfolgreiche Tarifbewegung
ver.di: Genau, und es gab auch schon Erfolge …
Antje: Das ist richtig. Es gab in 2018 eine europaweite Initiative, initiiert von der Europäischen Transportarbeiter Föderation ETF, um Ryanair in die Tarifierung zu zwingen. Die Kampagne war ein riesen Erfolg für die Beschäftigten. Ein Tarifvertrag legt seitdem unter anderem ein Grundgehalt fest. Das ist eine riesige Verbesserung, denn vorher gab es nur bezahlte Flugstunden und damit starke Schwankungen im Gehalt. In diesem Sommer ist es uns nach einer umfangreichen Mobilisierung gelungen, einen Manteltarifvertrag auszuhandeln, der neben dem Schichtplan auch Themen wie Jobtickets regelt.
Außerdem sind wir dabei, bei der Vergütung eine Einigung zu finden. Auch hier konnten wir lang ersehnte Verbesserungen erreichen. Unter anderem soll endlich eine Gehaltstabelle mit Erfahrungsstufen eingeführt werden.
Parallel gab es einen Kampf um eine Änderung im Betriebsverfassungsgesetz. Bisher galt: Fliegendes Personal darf keine Betriebsräte wählen. Dass sich das 2019 geändert hat, haben die Kolleg*innen bei Ryanair miterstritten, das sogenannte Lex Ryanair.
Mitbestimmung gegen alle Hindernisse
ver.di: Das heißt, bei Ryanair gibt es einen Betriebsrat?
Antje: Es gibt im Moment noch keinen Betriebsrat, aber wir sind tatsächlich dran. An den Standort Berlin und Köln existieren bereits Wahlvorstände. Die Betriebsratsgründung zu begleiten, ist Teil meiner Aufgaben.
Wie man sich vorstellen kann, wehrt sich Ryanair mit Händen und Füßen gegen die Betriebsratsgründung. Sie überziehen uns mit einstweiligen Verfügungen. Beide Wahlvorstände haben wenige Tage nach ihrer Wahl bereits Post vom Gericht bekommen. Ich war noch nie so viel vor Gericht wie im letzten Jahr. – Verzögern ist ihre Taktik, und die ist zermürbend.
Einmal heißt es von Konzernseite, wir dürften keinen Betriebsrat bilden, weil es keine „qualifizierte Betriebsstruktur“ am Standort gäbe. Legislative Voraussetzung dafür sind ein sogenannter „qualifizierter Betriebsteil“, die Distanz zum Firmensitz und eine minimale Managementstruktur – und die gibt es am Standort BER. Base Captains und Base Supervisor sind ja da.
Solidarisch in die Betriebsratswahl
Die Anwälte gehen so weit, vor Gericht zu leugnen, dass es einen Crew Room gibt. In der Zwischenzeit haben sie den Raum einfach umbenannt. Ich vermute, dass sie selbst wissen, dass es juristisch eng für sie ist, aber sie betreiben einen riesen Aufwand, um die Betriebsratswahl zu verzögern. Es werden immer wieder umfangreiche Anträge gestellt. Unser Wahlvorstand lässt sich aber nicht entmutigen. (lacht)
Wir hatten gerade die alte Garde, die während der 2018er-Streiks aktiv war, in Videocalls. Manche von ihnen sind noch beim Unternehmen, andere haben mittlerweile gewechselt. Zu sehen, die Arbeitgeber haben zwar Druck auf unsere Aktiven ausgeübt, aber niemand wurde gefeuert – das hat neuen Mut gemacht!
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