ver.di-Mitglied Simone Öhlschläger mit neongelber Streikweste vor einem Supermarkt.

Steigende Gewinne bei den Konzernen auf der einen Seite, Reallohnverluste für über 5 Millionen Beschäftigte im Groß- und Einzelhandel auf der anderen Seite. Die Arbeitgeber im Handel blockieren seit Monaten die Verhandlungen für einen fairen Tarifvertrag. Statt Gespräche zu führen, setzen die Arbeitgeber vielerorts ihre Beschäftigten unter Druck. Damit sie sich nicht an Streiks beteiligen. Auch Simone Öhlschläger, 57, aus Bielefeld bekommt das zu spüren.

„Ich lasse mir mein Leben nicht von Angst diktieren.“

Ihr Arbeitgeber verlegt kurzfristig ihre Schichten und immer häufiger wird Simone z.B. in die unattraktiven Frühschichten am Samstag eingeteilt. Denn seit Mai 2023 beteiligt sich die Kassiererin an Aktionen und Streiks für tabellenwirksame Lohnerhöhungen. Trotz der Sanktionen durch ihren Arbeitgeber: Angst hat Simone nicht. Dafür aber eine Menge Wut im Bauch. Denn nicht nur die gestandene Betriebsrätin wird unter Druck gesetzt. Befristet beschäftigte Kolleg*innen bekämen schon mal einen dezenten Hinweis, dass sie für eine Verlängerung des Arbeitsvertrags Pluspunkte sammeln müssten. „Diesen Psycho-Druck der Arbeitgeber auf gute Leute kann ich absolut nicht nachvollziehen“, sagt Simone. „Denn wir haben, auch bei uns im Markt, einen absoluten Fachkräftemangel“, so die Kassiererin, die über 27 Jahre Berufserfahrung hat.

Große Geschlossenheit

Auch Silke Zimmer, Mitglied im ver.di-Bundesvorstand, bewertet die aktuelle Tarifrunde im Handel als besonders hart. Dennoch oder gerade deshalb hätten die Kolleg*innen „ein neues gewerkschaftliches Selbstbewusstsein entwickelt.“ Trotz aller Versuche der Arbeitgeber, die Geschlossenheit der Kolleginnen und Kollegen zu brechen, stünden sie zusammen. „Ich habe hohen Respekt vor dem Mut und der Ausdauer der Beschäftigten“, sagt Silke Zimmer, die den ver.di-Fachbereich Handel leitet.

Zahlungen nach Gutsherrenart – Nicht mit uns!

Und die monatelangen Streiks der Beschäftigten zeigen Wirkung: Für den Groß- und Außenhandel in Bayern wird am 22. März 2024 das erste Mal seit Monaten wieder verhandelt. Eine weitere Methode der Arbeitgeber: Um den Streikwillen der Beschäftigten zu brechen, haben die Arbeitgeber im Einzelhandel freiwillige Lohnanhebungen angekündigt. „Da könnte ich freiwillig kotzen“, sagt Simone verärgert über diese unzureichende Maßnahme. „Denn die Arbeitgeber verlieren kein Wort darüber, ob diese freiwillige Anhebung z.B. auch für die Gehälter der Auszubildenden gilt.“ Und noch etwas Entscheidendes empört Simone, die sich auch in der Tarifkommission engagiert. Die freiwilligen Zahlungen sind nicht rechtsverbindlich und können jederzeit wieder durch die Arbeitgeber zurückgenommen werden. Einen Tarifvertrag können solche Maßnahmen nicht ersetzen. „Wir brauchen keine Zahlungen nach Gutsherrenart, sondern Verhandlungen auf Augenhöhe und Respekt für die Beschäftigten“, sagt auch Silke Zimmer. Dass die Arbeitgeber ihre Blockadehaltung aufgeben und endlich wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren, dafür gehen Simone und ihre Kolleg*innen immer wieder auf die Straße. Ob Streik, öffentlichkeitswirksame Verteilaktionen in Supermärkten oder gemeinsame Aktionstage mit den Beschäftigten aus dem Großhandel: „An solchen Tagen spüre ich Städte- und sogar länderübergreifende Solidarität. Das ist absolut stark, da habe ich immer wieder Gänsehaut“, sagt Simone.

Satte Gewinne – für die Konzerne

Doch bei aller Hochstimmung während der Streikaktionen: Simone weiß genau, wofür sie seit Monaten kämpft. Sie kämpft um ihre berufliche Zukunft und um die Zukunft der Branche. Denn der Branche fehlt der Nachwuchs. Arbeitsbedingungen und Bezahlung lassen zu wünschen übrig. „Ich höre jeden Tag von meinen Kollegen und Kolleginnen, womit sie zu kämpfen haben“, berichtet die Betriebsrätin Simone. „Uns fehlt es an Geld und an Wertschätzung während die Konzerne Umsätze ohne Ende machen.“ Die Forderungen von 2,50 Euro mehr Stundenlohn für den Einzel- und Versandhandel empfindet die Kassiererin ebenso gerechtfertigt wie 13 Prozent mehr Lohn im Groß- und Außenhandel. „Das haben wir verdient“, sagt sie mit Blick auf satte Konzerngewinne, die der häufig prekären Situation ihrer Beschäftigten gegenüberstehen. „Es kann doch nicht sein, dass die Aktionäre sich Reingewinne einschenken und wir ohne rechtsverbindlichen Tarifvertrag dastehen, der uns vor weiteren Reallohnverlusten schützt.“

Altersarmut – für die Beschäftigten

Ein Blick auf die Zahlen gibt Simone Recht: 41 Prozent der Beschäftigten beziehen einen Niedriglohn und ganze 90 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel sind von Altersarmut betroffen. „Viele Handelsbeschäftigte müssen ihre Löhne und Renten mit Sozialleistungen aufstocken“, sagt Silke Zimmer. „Es ist nicht hinnehmbar, dass große Konzerne sich ihre Gewinne indirekt von den Steuerzahler*innen subventionieren lassen“, so das ver.di-Bundesvorstandsmitglied. Hinzu kommt, dass viele Beschäftigte unfreiwillig in Teilzeit arbeiten müssen, weil es schlichtweg keine anderen Jobangebote in der Branche gibt. „Wenn eine Verkäuferin mit 20 Wochenstunden 1.200 Euro netto zur Verfügung hat, dann weiß jeder: diese Frau braucht jeden Cent, um ihr Leben finanzieren zu können“, ergänzt Silke Zimmer.

Auch Simone arbeitet in Teilzeit und macht sich Gedanken um ihre Zukunft. Ihre Fixkosten belaufen sich aktuell auf 1.300 Euro im Monat. „Laut Bescheid wird meine Rente etwa 1.400 Euro brutto betragen“, sagt die alleinstehende Mutter eines erwachsenen Sohnes. Nach über 50 Arbeitsjahren. Simones Renteneintrittsalter: 67 Jahre. Krank werden oder frühzeitig in Rente gehen, das könne sie sich nicht erlauben, sonst fällt die Rente noch geringer aus. „Spätestens ab dem Jahr 2034 ist die Altersarmut für mich aber ohnehin vorprogrammiert“, sagt die heute 57-Jährige. „Das ist ein absolut beschissenes Gefühl“, gibt die Kassiererin offen zu.

„Wir werden dort auftauchen, wo die Arbeitgeber uns nicht vermuten.“

Und genau das will sie ändern. Simone ist entschlossen gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen den Druck auf die Arbeitgeber weiterhin aufrechtzuerhalten. „Ich streike zwei Jahre, wenn es sein muss“, sagt die Kassiererin und ihre Motivation ist ungebrochen. Die Betriebsrätin wird sich auch in den kommenden Wochen wieder an Aktionen beteiligen. Und das wird sie so lange durchziehen, bis die Arbeitgeber mit einem vernünftigen Angebot an den Verhandlungstisch zurückkehren. „Inwieweit dann ausgehandelte Zahlungen rückwirkend sein können, das werden erst die Verhandlungen zeigen,“ sagt ver.di-Bundesvorstandsmittglied Silke Zimmer auf die Frage nach einem möglichen Ergebnis solcher Gespräche.

Solidarität verleiht Flügel

Bis dahin freut Simone sich auch über die Unterstützung und den Zuspruch zahlreicher Kundinnen und Kunden. „Viele meiner Stamm-Kund*innen drücken mir den Arm und sagen: ´Weiter so!`“, berichtet die Kassiererin. „Die haben Verständnis für unsere schwierige Situation.“ Und genau solche Reaktionen sind es, die Simone den Spaß an ihrem Job erhalten.
 
Silke Zimmer ruft daher alle ver.di-Mitglieder dazu auf, die Beschäftigten im Handel zu unterstützen, auf ihre Situation aufmerksam zu machen und sich an Verteil-Aktionen in den Supermärkten zu beteiligen. „Jede Form von Solidarität tut gut, insbesondere wenn man in einem so langen Arbeitskampf wie dem unseren steckt,“ so die Leiterin des ver.di-Fachbereichs Handel.

Wie es aktuell in der Tarifrunde Handel weitergeht, erfährst du auch auf verdi.de. Den Fachbereich Handel findest du übrigens auch auf Facebook und Instagram.

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