Ein Bericht von Conny Berger, Leiterin Kommunikation in der ver.di Bundesverwaltung
Frauen gab es 1974 so gut wie gar nicht in der Gewerkschaftswelt und so konnte auch Erika Derntröder als ÖTV-Beschäftigte den großen Streik im öffentlichen Dienst 1974 nicht aktiv unterstützen. Zehn Jahre musste sie sich daheim um den Nachwuchs kümmern, denn auch Betreuung und Teilzeitarbeit gab es damals nicht.
Aber sie erinnert sich trotzdem noch gut an ein wesentliches Element ihrer politischen Arbeit: „Wir haben uns damals sehr für den Frieden eingesetzt, das hat uns bewegt.“ – Szenenapplaus im Hans-Liersch-Haus, wo sich am 12. Oktober 2022 auf Einladung des ver.di-Bezirks Mittleres Ruhrgebiet einhundert Kolleg*innen aus allen Altersgruppen treffen, um sich über „einen legendären Arbeitskampf in Krisenzeiten“ auszutauschen und sich vielleicht für den nächsten seiner Art zu rüsten.
Historische Parallelen: gegen Krieg und Inflation
Schließlich steht auch die Tarifauseinandersetzung für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen ab Januar 2023 unter den Vorzeichen einer vergleichbaren Inflation wie 1974. Damals forderte die ÖTV 15 Prozent und setzte am Ende elf Prozent durch. Und neben den Themen Frieden und Reallohnausgleich bei hohen Preissteigerungen spielte 1974 ein weiteres Thema eine wichtige Rolle, das heute aktueller ist als je zuvor: „Wir haben von einer besseren Zukunft, von einer gesunden Umwelt geträumt“ erklärt Günter Dickhausen, 1974 Volontär bei der ÖTV-Bochum.
Der optimistische Blick nach vorne – das verband viele Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen damals mit der SPD von Willy Brandt. Umso schmerzhafter war der harte Arbeitskampf gegen die eigene Partei. Aber es musste sein: „Wir brauchten das Geld. Die Kumpels von der IG Metall haben uns ausgelacht, wenn wir in Bogestra-Uniform nach der Schicht in die Kneipe kamen und haben uns Hungerlöhnern ein Bier ausgegeben“, berichtet Klaus Glaser, 1974 Busfahrer und später Betriebsratsvorsitzender bei der Bogestra. Dann habe die ÖTV so viel rausgeholt, da habe er gedacht: „Jetzt kann ich auch heiraten!“ – Gesagt, getan!
Streik als solidarische Erfahrung
So hat Heinz Kluncker an der Spitze der ÖTV nicht nur zu einem bis zu dem Zeitpunkt in der Bundesrepublik einmaligen Streik aufgerufen, sondern auch mindestens eine Ehe gestiftet – aber nicht den Kanzler Willy Brandt gestürzt. Das stellt heute der Historiker Karl-Christian Führer klar. Er hat sich in seinem Buch „Gewerkschaftsmacht und ihre Grenzen“ ausführlich mit Heinz Kluncker und der ÖTV auseinandergesetzt. Er macht deutlich, dass womöglich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen von 1974 und 2022/23 vergleichbar sind, nicht aber deren Ursachen: In den 70er Jahren emanzipierten sich die erdölfördernden Länder durch Preiserhöhungen auch von der Ausbeutung ihrer fossilen Brennstoffe durch die Kolonialmächte.
Gefragt, was ver.di für die bevorstehende Tarifauseinandersetzung von 1974 lernen kann, antwortet Führer: „Tarifverträge sind immer Kompromisse. Keine Seite darf sich als klarer Gewinner und Verlierer fühlen. Und: Ohne Gewerkschaften wären die Bedingungen für Beschäftigte viel schlechter.“
Das ist ein überzeugendes Argument für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft, die 1974 direkt beim Eintritt ins Arbeitsverhältnis klargemacht wurde. Und so konnten alle Beteiligten von der solidarischen Erfahrung profitieren und wussten: „So geht streiken!“
Cornelia Berger, Leiterin Kommunikation in ver.di, schreibt in unregelmäßigen Abständen auf diesem Blog darüber, was die Gewerkschaft bewegt.
Sie studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Staatsrecht und arbeitete als Journalistin. Seit 2001 ist sie bei der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) als Pressesprecherin des Bundesvorstands, Geschäftsführerin der dju in ver.di und Bereichsleiterin Medien in der ver.di-Bundesverwaltung.
Seit Oktober 2020 leitet sie den Bereich Kommunikation.
Pingback:Warnstreik Post | Zusammen geht mehr - 24ds.org