Nicole: Ich bin Nicole, 28 Jahre alt und arbeite seit 2018 bei einem städtischen Träger als Erzieherin. Es ist eine große Einrichtung mit um die 100 Kinder.
Vormittags betreuen wir Kindergartenkinder. Die „Vormittagskinder“ unter ihnen sind um 13.30 Uhr alle weg. Es bleiben die Ganztagskinder und ab Nachmittag kommen unsere Schulkinder, Erst- bis Fünftklässler*innen. Man hat also nie die 100 Kinder auf einmal da, aber natürlich auch nie das volle Personal. Eigentlich haben wir räumliche Kapazitäten, um ca 130 Kinder zu betreuen, aber dazu fehlt uns das Personal.
Wir arbeiten mit einem offenen Konzept, die Kinder können sich frei in den Räumen bewegen. Ich habe zehn Bezugskinder, für die ich, was Dokumentation und Entwicklungsgespräche angeht, verantwortlich bin. Seit November letztes Jahr bin ich in Elternzeit.
Erster Überblick am Morgen: Wer ist heute krank?
ver.di: Wie läuft ein Arbeitstag bei dir ab?
Nicole: Unsere Öffnungszeiten sind von 6.30 morgens bis 17.30 Uhr am Nachmittag. Wir arbeiten im Schichtdienst. Wenn ich um 6.30 Uhr anfange, habe ich um 15.00 Uhr Feierabend, die Spätschicht fängt um 9 Uhr an und bleibt bis zum Ende.
Wenn ich morgens bei der Arbeit ankomme, verschaffe ich mir erst mal einen Überblick: Wer von den Kolleg*innen ist krank und welche Kinder sind heute da oder welche unserer Räume sind schon offen? Wir haben am Tresen ein kleines Buch, in dem steht, welche Dienste abgedeckt werden müssen. Oder: Stehen heute Elterngespräche an?
Am Vormittag geht es in ins Gruppengeschehen. Die Kinder können sich im Haus frei bewegen. Deswegen kann es sein, dass man ein Kind, für das man verantwortlich ist, über Tage kaum sieht, weil das Kind sich meistens im Atelier aufhält, man selbst hat aber gerade den Schwerpunkt auf den Musikraum gesetzt.
Wir arbeiten mit Jahreskonzepten: Man entscheidet sich für einen Schwerpunkt und überlegt sich ein Konzept zum Beispiel angelegt an einen unserer Räume, Musik, Zeichnen und und und. Wenn die Personalsituation es zulässt, ist der Vormittag die Zeit, in der man mit den Kindern spazieren gehen kann, Ausflüge macht.
Mittags haben wir Erzieher*innen selbst Mittagspause, gleichzeitig betreuen einige von uns das Mittagsessen der Kinder.
Personalmangel in Kitas: Dokumentation ist kaum möglich
Am Nachmittag sind durch die Hausaufgabenbetreuung bis zu drei Leute gebunden – wenn sie da sind. Manchmal empfinde ich den Nachmittag sogar als entspannend, an anderen Tagen ist er mega stressig, Besonders wenn der Vormittag nicht optimal gelaufen ist, weil man für kein Kind richtig Zeit hatte, und wenn dann auch am Nachmittag keine Zeit da ist, um ausreichend bei den Hausaufgaben zu unterstützen.
Dann sollen wir noch Vorbereitung und Dokumentation machen. Wir haben drei Wochenstunden Vorbereitungszeit. Im Vergleich mit anderen Trägern ist das noch viel. Aber die Dokumentation für zehn Bezugskinder in den drei Stunden zu schaffen und Entwicklungsgespräche mit zehn Eltern zu führen, ist unmöglich. Oft hofft man darauf, dass sich ruhige Momente ergeben, während man mit den Kindern in der Gruppe ist, dass man seine Dokumentation weiterschreiben kann.
Aber das klappt natürlich fast nie und es ist auch nicht der Sinn der Sache. Manche Kolleg*innen machen ihre Dokumentation regelmäßig unbezahlt zuhause. Davon halte ich gar nichts, weil ich meinem Arbeitgeber nicht noch Geld regelmäßig schenken möchte.
Es ist ein Gestrampel von Tag zu Tag: Man muss gucken, dass man den Tag irgendwie übersteht – ohne selbst dabei krank zu werden.
Personalmangel: Eine Erzieherin und 25 Kinder
ver.di: Wie hoch ist denn der Betreuungsschlüssel bei euch – in der Theorie?
Nicole: Für den Nachmittag weiß ich das gar nicht so genau – vielleicht bei 1:12 bei den Schulkindern. Bei den Kindergartenkindern ist er etwas niedriger, er liegt bei 1:8 oder 1:10. In der aktuellen Situation kommt es aber nicht ganz selten vor, dass eine Kraft 20 bis 25 Kinder alleine betreut. Inhaltlich kann ich mit so vielen Kindern natürlich nicht mehr arbeiten. Ein Buch vorlesen – so etwas geht gar nicht.
An solchen Tagen bin ich einfach nur froh, wenn sich kein Kind verletzt. Das sind auch die Tage, an denen man sich fragt: Ich habe es so anders gelernt, was mache ich da den ganzen Tag eigentlich?Und dabei ist dieser Beruf eigentlich so wunderschön. Wenn die Eltern sich bedanken und erzählen, wie gern ihr Kind in den Kindergarten geht – das ist doch das Allerschönste!
Und ich möchte auch noch mal betonen: Mein Träger kann für diese Situation nichts. Ich bin froh, für diesen Träger zu arbeiten. Die Kolleg*innen dort rufen oft bei uns an und fragen, ob sie uns irgendwie unterstützen können. Die Verantwortung für die Situation liegt bei den Kommunen.
Krank durch Stress
ver.di: Du hast es angedeutet: Du, die Kolleg*innen – durch den Stress werdet ihr oft krank?
Nicole: Ich muss sagen: So schlimm wie jetzt, nach Corona, war es noch nie! So viele Krankmeldungen! Es sind Kolleg*innen krank, gleich für ein, zwei Wochen, die früher NIE ausgefallen sind. Gerade um Weihnachten herum ist der Krankenstand besonders hoch, da wird es dann auch schwierig mit dem Pause machen.
Selbst lang geplante Fortbildungen musste ich schon mehrfach absagen. Man freut sich darauf und dann klappt es nie – aus Personalmangel. Damit fällt neuer Input für mich weg und ich will ja auch neue Impulse in die Kolleg*innenschaft tragen. Das finde ich schade.
Als ich noch Vollzeit gearbeitet habe, war ich mindestens einmal im Monat krank – manchmal ein, zwei Tage, aber bis hin zu ein, zwei Wochen. Das Gefühl, ncht mal einen Monat gesund durcharbeiten zu können, ist schon beklemmend. Im Sommer haben wir in der Einrichtung drei Wochen Sommerpause – in der ersten Woche liegen wir Beschäftigte alle erst mal eine Woche flach, erst dann fängt die Erholung an.
Dass der Stress krank macht, dass es nicht auszuhalten ist, wurde mir klar, als ich Stunden reduziert habe und es danach schlagartig besser wurde. Und es geht nicht nur mir so. Die Kolleg*innen sagen: „Bis zur Rente schaffe ich das niemals!“ Viele gehen in Teilzeit oder sie machen etwas anderes. Ich sehe andere Kolleg*innen, die können gar nicht mehr abschalten, die kommen aus dem Hamsterrad gar nicht mehr raus.
Nach Corona: Viele schmeißen hin
Dabei war der Personalschlüssel 2018, als ich bei meinem Träger angefangen habe, total gut. Es war eigentlich geplant, dass wir eine neue Gruppe aufmachen, was mit der Corona-Situation dann nie geschehen ist, von daher waren wir genügend Leute. Aber dann sind Vollzeitkräfte gegangen und für sie sind Teilzeitkräfte gekommen. Viele aus der Belegschaft haben Stunden reduziert, ich selbst musste auf 80 Prozent reduzieren wegen dem ganzen Stress.
Ich muss sagen, manchmal denke ich auch, ich will etwas anderes machen, wo ich nicht so weit fahren muss, und vor allem eine Tätigkeit, bei der ich nicht weniger verdiene, aber viel weniger Stress habe.
Ich hatte das Glück, dass ich es in meiner Ausbildung anders erlebt habe, mit kleinen Gruppen und einem super Betreuungsschlüssel. Die Einrichtung war kleiner, maximal sechs Kinder pro Ausbildungsangebot und die Kinder wurden bis 13.30 Uhr von ihren Eltern abgeholt. Wir hatten deshalb zehn Stunden für die Dokumentation, das war traumhaft! Von daher weiß ich, wie der Beruf auch sein kann!
Erzieher*innen-Ausbildung muss vergütet werden
ver.di: Was muss sich ändern, damit die Arbeitsbedingungen wieder aushaltbar werden, dass man nicht schon nach wenigen Jahren so krank wird, dass man Stunden reduziert oder den Beruf verlässt?
Nicole: Um den Arbeitskräftemangel zu bekämpfen, muss als Erstes die Ausbildung flächendeckend vergütet werden. Manche Azubis bekommen gar nichts, andere müssen für die Ausbildung sogar zahlen. Noch verrückter: In den Praktika bekommen viele Azubis gar nichts, obwohl sie teilweise in den Personalschlüssel eingerechnet werden! Ich frage mich: Wer ergreift einen Beruf, in dem viele in der Ausbildung nicht bezahlt werden, während man auf dem freien Markt längst Geld verdienen kann?
Dann muss sich der Schlüssel ändern: mehr Erzieher*innen auf kleinere Gruppen und mehr Verfügungszeit für die Dokumentation.
Viele Kolleg*innen haben aus Frust ihren Job hingeschmissen. Ich bin mir sicher, dass viele von ihnen zurückkommen, wenn sich wirklich etwas ändern würde. Ich weiß: Der Arbeitskräftemangel wäre damit nicht beseitigt – aber zumindest wäre er weniger schlimm!
Die Kolleg*innen sind streikbereit!
ver.di: Was erwartest du von der Tarifrunde?
Nicole: Ich bin ja gerade in Elternzeit und mit dem Krümel kann ich nicht immer auf Demos. Dafür unterstütze ich die Tarifrunde in den Sozialen Medien, wo ich kann. Ich bin außerdem mit meinen Kolleg*innen in Kontakt und ermuntere sie, aktiv zu sein.
Ich freue mich total, dass eine Kollegin, die sich mit Gewerkschaft und Streiks immer schwer getan hat, jetzt voll dabei ist und auch sagt: Mir reichts! Sie freut sich richtig auf den Aktionstag. Ich habe schon das Gefühl, dass da eine gute kämpferische Stimmung herrscht unter den Kolleg*innen!
ver.di: Liebe Nicole, danke für das Gespräch!
Lust bekommen, auch aktiv zu werden? – Prima! Hier könnt ihr euch an der Tarifrunde im öffentlichen Dienst 2023 beteiligen. Und hier findet ihr alle unsere sonstigen Aktivitäten im Sozial- und Erziehungsdienst.