Das Bild zeigt Bernd Becker, vere.di Landesfachbereichsleiter im Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft im ver.di Landesbezirk Sachsen/ Sachsen-Anhalt/ Thüringen
Bernd Becker, Landesfachbereichsleiter im Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft im ver.di Landesbezirk Sachsen/ Sachsen-Anhalt/ Thüringen, hat die Verhandlungen mit den Arbeitgebern der Waldkliniken Eisenberg geführt.

Bernd Becker, Fachbereichsleiter im Landesbezirk Sachsen / Sachsen-Anhalt und Thüringen, hat zusammen mit den Beschäftigten und dem Geschäftsführer der Waldkliniken Eisenberg David-Ruben Thies einen wegweisenden Tarifvertrag erarbeitet.

Kernstück des visionären Vertrags sind unter anderem ein Lebensarbeitszeitkonto und eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit ohne Lohnverlust. Wir haben gefragt, wie es zu diesem außergewöhnlichen Tarifvertrag kam.

Waldkliniken Eisenberg: Komplettversorgung für die Region
Waldkliniken Eisenberg
Foto: HG Esch

ver.di: Du hast mit den Waldkliniken Eisenberg einen sehr besonderen, sehr visionären Tarifvertrag abgeschlossen. Bevor wir dazu kommen, kannst du mir sagen: Was ist das für ein Klinikbetreiber, was ist das für eine Klinik? – Auf der Webseite wird mit medizinischer Spitzenleistung und der Aufenthaltsqualität eines Sterne-Hotels geworben – ich dachte an eine elitäre Privatklinik, aber dann heißt es „für Patienten aller Kassen“ …

Bernd: Die Waldkliniken sind in kommunaler Trägerschaft, aber rechtlich eine eigene Gesellschaft. Das Unternehmen umfasst die Waldklinik Eisenberg selbst als orthopädische Fachklinik mit 700 Beschäftigten, die aber darüber hinaus auch für die Grund- und Regelversorgung in der Gegend mitverantwortlich ist. 

Küche, Reinigung und Technik sind über eine ausgegliederte Servicegesellschaft tätig. Anfang nächsten Jahres eröffnet eine Rehaklinik, so dass man damit die Komplettversorgung vor Ort hat. Die dritte Gesellschaft umfasst ein medizinisches Versorgungszentrum mit einigen Ambulanzen, unter anderem in Gera und Jena. Und ja, es stimmt schon: Die Klinik ist ein sehr modernes Haus, fast schon mit Hotel-Charakter. 

Die Beschäftigten als Erfolgsfaktor

ver.di: Das ist erstaunlich, angesichts der wirtschaftlichen Schieflage in vielen Kliniken …

Bernd: Wie alle Krankenhäuser unterliegen auch die Waldkliniken wirtschaftlichen Zwängen, aber sie haben dort den Blick aufs Ganze. Die Versorgung der Patient*innen steht im Mittelpunkt, aber man lässt dabei die Beschäftigten nicht aus dem Blick. Dort wird gesehen, dass sie ein wesentlicher Erfolgsfaktor sind. Das ist nicht selbstverständlich. 

So ist der Betreuungsschlüssel mit 1:8 höher als in vielen Kliniken. Auch das Dienstplansystem ist sehr modern. Die Beschäftigten können ihre Pläne per App selbst erstellen und dort auch untereinander tauschen. Kommt es zu Konflikten, so dass nachgesteuert werden muss, geschieht das zentral. So sind die Kolleg*innen weniger von direkten Vorgesetzten abhängig. 

Die Beteiligung der Beschäftigten wird in den Waldkliniken sehr ernst genommen. Zum Beispiel mit dem Neubau wurde in Sachen Beteiligung ein Zeichen gesetzt, wo die Beschäftigten schon früh in das Konzept involviert waren. Der Geschäftsführer ist gemeinsam mit Beschäftigten und dem Betriebsrat in die Niederlande gefahren, um dort Kliniken zu besichtigen.

Waldkliniken: eine der letzten Kliniken ohne Tarifvertrag in der Region

ver.di: Das klingt super und das zeigt, dass dort ein anderes Verständnis vorherrscht als an anderen Kliniken. Aber was ist die Vorgeschichte zu diesem ungewöhnlichen Tarifvertrag, wie wart ihr vorher dort organisiert? – Will sagen: Wie kommt man zu so einem besonderen Abschluss?

Bernd: Die Geschichte ist schon ungewöhnlich aus der Perspektive normaler Tarifabschlüsse. Dazu muss man wissen: Die Waldkliniken sind nicht tarifgebunden. Der Vorgänger des heutigen Geschäftsführers war 2008 aus dem TVÖD ausgestiegen. In unserem Landesfachbereich waren die Waldkliniken damit eine der letzten Kliniken ohne Tarifvertrag – und es war auch unmöglich, dort eine Tarifbewegung zu etablieren, einfach weil von dort kein Drang nach einem Tarifvertrag ausging. Deswegen hatten wir unter den gut 700 Beschäftigten auch nur um die dreißig Mitglieder.

Normalerweise ist es ja so, dass die Beschäftigten unzufrieden sind und sich an uns wenden, und dann unterstützen wir sie. In diesem Fall war es aber der Geschäftsführer, der auf mich zugekommen ist und uns ansprach, dass er einen Tarifvertrag möchte. 

Mit Skepsis in die Gespräche

ver.di: Das ist ja nun wirklich ungewöhnlich. Was hast du dir gedacht, als du die Nachricht bekamst, mit dem Geschäftsführer über einen Tarifvertrag zu sprechen?

Bernd: Ich war natürlich erst mal skeptisch. Ich dachte dann, dass man jetzt einen Tarifvertrag möchte, weil sich ja auch der gesetzliche Rahmen geändert hat und dass die Finanzierung über das Pflegebudget der Grund für die Gesinnungsänderung war. Das erste Treffen fand auch ohne Tarifkommission statt. Ich wollte erst mal sondieren, was dahintersteckt. 

David-Ruben Thies, der Geschäftsführer, sagte mir dann, er wolle einen Tarifvertrag, der das Geld zwar mitdenkt, aber nicht komplett darauf konzentriert – einen modernen Tarifvertrag, der Flexibilität beinhaltet und die Work-Life-Balance der Kolleg*innen im Blick hat.

Das klang natürlich spannend, ich war aber immer noch skeptisch und habe ihn erst mal gefragt, wie er sich das vorstellt: Was sollen wir mit dreißig Mitgliedern hier machen? Das sind nicht genug, um aktiv zu werden. So viele Kapazitäten haben wir gar nicht.

Ein Tarifvertrag nur für ver.di-Mitglieder

Aber auch dafür hatte er schon eine Lösung: Der Tarifvertrag sollte ausschließlich für ver.di-Mitglieder gelten. Noch erstaunter war ich, als er von sich aus sagte, dass der Vertrag auch die Tochtergesellschaften einschließen solle, also für alle Beschäftigten bis zu den Service-Gesellschaften gelten sollte. Das ist ein starkes gewerkschaftliches Ziel, das anderswo hart erkämpft werden muss: eine Belegschaft – ein Tarifvertrag.

Ich konnte in dem Moment tatsächlich kaum glauben, was ich da gerade gehört hatte, aber ich habe es als Chance gesehen, zu zeigen, was möglich und bezahlbar ist, wenn beide Seiten an einem Strang ziehen. Das war dann auch der Moment, in dem ich gesagt habe: OK, wir bilden eine Tarifkommission.

Das sagt David-Ruben Thies, Geschäftsführer der Waldkliniken Eisenberg:
„Der Eisenberger Tarifvertrag, den wir in vielen konstruktiven und respektvollen Verhandlungen mit ver.di im Juni 2023 abgeschlossen haben, ist für uns ein Meilenstein.
Und ich denke auch für die Gesundheitsbranche ein Zeichen, dass es geht! Man muss es nur wollen und machen.

Wertschätzung, gute Bezahlung und Freizeit zur Regeneration für Mitarbeitende sind die Eckpfeiler, um Fachkräfte im Beruf zu halten und vor allem wieder zurückzugewinnen. Das ist meine volle Überzeugung.

Mit Bernd Becker und Philipp Motzke von ver.di, den Mitarbeitenden aus unserem Unternehmen in der Tarifkommission und meiner Personalleiterin Sylvia Orlamünder empfand ich die 1,5 jährige Verhandlungszeit stets fair. Manchmal natürlich auch anstrengend. Aber es hat sich gelohnt. Es ist ein starkes Stück und wir sind mächtig stolz darauf!“

Foto: Guido Werner
Zeitwertkonto und 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich

ver.di: Kannst du noch mal die Eckpunkte dieses außergewöhnlichen Tarifabschlusses erklären?

Bernd: Das Highlight des Tarifvertrags ist das Zeitwertkonto. Die Idee dahinter: Wer möchte, kann bei einer 35-Stunden-Woche mit 100 % Lohnausgleich arbeiten. Man kann auch temporär die Arbeitszeit auf 40 Wochenstunden anheben und die dadurch geleisteten Mehrstunden ansparen oder sich auszahlen lassen, immer auf Basis des Lohnes der 35-Stunden-Woche. Die Beschäftigten können dabei jedes Jahr erneut entscheiden, wie viel sie in den kommenden zwölf Monaten arbeiten möchten. Der Arbeitgeber hat keinen Einfluss darauf, wie viele Stunden man arbeiten möchte, diese Entscheidung liegt allein bei den Beschäftigten!

Die Beschäftigten können auch entscheiden, was sie mit dem Angesparten machen: Teilzeit, Sabbatical, Elternzeit oder früher in den Ruhestand gehen. Wir haben das mal durchgerechnet: Wer als Azubi anfängt und durchgehend 40 Stunden arbeitet – was man natürlich nicht muss – kann schon mit 58 in Rente gehen. 

Die Beschäftigten haben noch eine Wahl: Sie müssen den Tarifvertrag nicht annehmen, sondern können auch zu den bestehenden Bedingungen weiterarbeiten.

Vorlauf: Zeit für die Personalakquise

ver.di: Für diese großen Veränderungen braucht es aber Vorlauf … 

Bernd: Der Zeitplan sieht so aus, dass die Wochenarbeitszeit der rund 700 Beschäftigten bis 2028 um bis zu fünf auf 35 Stunde pro Woche reduziert wird – bei vollem Lohnausgleich. Auch die Löhne der Beschäftigten in den Tochtergesellschaften werden über diesen Zeitraum angeglichen. Wir brauchen diese Stufen, damit in der Übergangszeit die Personalakquise stattfinden kann.

ver.di: Warum gibt es woanders diese Lebensarbeitszeitkonten nicht?

Bernd: Zeitwertkonten müssen insolvenzgeschützt werden – und solche Versicherungen sind für viele Arbeitgeber zu teuer. Wir haben aber zusammen mit den Sparkassen eine bezahlbare Lösung gefunden.

Überraschte Beschäftigte

ver.di: Wie habt ihr das Konzept erarbeitet? Wurden die Beschäftigten eingebunden?

Bernd: Um handlungsfähig zu werden, mussten wir zuerst eine Tarifkommission bilden, die alle Gesellschaften innerhalb der Waldkliniken abbildet – aus den dreißig vorhandenen Mitgliedern. Bisher gab es einen aktiven Betriebsrat, andere waren gar nicht unbedingt aktiv. Es gab auch kaum gewerkschaftspolitische Netzwerke. Manche Kolleg*innen wussten gar nicht richtig, was eine Tarifkommission eigentlich macht. Ihnen war auch nicht klar, warum der Arbeitgeber auf einmal auf diese Idee kommt. Aber am Ende haben wir alles gut hinbekommen. 

Große Herausforderungen in der Umsetzung

Was den Tarifvertrag angeht, haben wir zusammen mit den Arbeitgebern zuerst die Eckpunkte diskutiert. Beide Seiten haben dann in den Tarifvertrag geschrieben, was ihnen wichtig ist. Angefangen haben wir mit den wichtigsten Elementen, Zeitwertkonto und Arbeitszeit. Klar war, dass alle Beschäftigten gleich entlohnt werden sollen, aber wie?! Durch die sehr unterschiedlichen Bedingungen der verschiedenen Gesellschaften war das eine Herausforderung. Es gab ja riesige Lohnabstände zwischen den Gesellschaften. Als Grundlage für die Berechnung haben wir dann die aktuellen Tabellen im öffentlichen Dienst von 2022 genommen.

Uns waren aber auch die Arbeitszeiten wichtig, Nachtdienste ab 20 Uhr, freie Wochenenden, Feiertagsarbeit, Wechselschichten und wir haben den Zugang zum Zulagensystem gelockert. Das Highlight ist aber immer noch das Lebensarbeitszeitkonto, da haben wir auch am längsten dran gesessen.

Transparente Zusammenarbeit

verdi: Das hat aber sicher seine Zeit gedauert?

Bernd: Der ganze Prozess hat anderthalb Jahre gedauert. Währenddessen mussten wir immer wieder die Machbarkeit unserer Ideen überprüfen. Auch da waren die Vertreter der Waldkliniken sehr transparent. Wir haben von ihnen alle Daten bekommen, die wir gebraucht haben, und zwar unaufgefordert.

Wir hatten ja auch noch andere Ideen, die es nicht in diesen Tarifvertrag geschafft haben. Dazu gehörte unter anderem ein Mobilitätszuschuss. Diese „Themen der Zukunft“ sind aber nicht aufgegeben, sondern auf später verschoben.

Konkurrenzfähig durch gute Arbeitsbedingungen

ver.di: Die Haltung des Arbeitgebers spielte also schon auch eine große Rolle? – Auf der Webseite heißt es ja auch: „Wir gestalten hier in Eisenberg das Krankenhaus der Zukunft“ …

Bernd Becker: Klar, ohne einen progressiven Arbeitgeber wäre dieser Tarifvertrag nicht möglich gewesen. Herr Thies, der Geschäftsführer der Waldkliniken, ist innovativ und hat klare Vorstellungen. Er ist schon auch ein Idealist.

Aber natürlich profitiert die Klinik auch von diesem Tarifvertrag – darf und soll sie auch. Eisenberg ist eine kleine Stadt, von Großstädten wie Jena umgeben. Die Klinik selbst liegt mitten im Wald. Natürlich konkurriert man z.B. mit der Uni Klinik Jena oder dem Klinikum in Gera um Fachkräfte. Mit diesem Tarifvertrag können die Waldkliniken den Kliniken in den Städten etwas entgegensetzen.

Zwei Drittel der Kolleg*innen sind in ver.di organisiert

ver.di: Der Tarifvertrag gilt nur für Mitglieder. Wie sieht es unter diesen Bedingungen mit der Mitgliederentwicklung aus?

Bernd Becker: Es ging in Schritten voran. Wir haben während des Prozesses interne Mitgliederversammlungen abgehalten, aber die Zuwächse waren erst mal verhalten, da war noch viel Skepsis. Dazu muss ich aber sagen, dass wir in der visionären Phase noch nicht so transparent waren, weil wir auch keine Enttäuschung schüren wollten.

Nach letztem Stand haben wir 452 Mitglieder in den Waldkliniken, das ist ein Organisationsgrad von gut 65 Prozent.

ver.di: Davon können andere Betriebe nur träumen! Bernd, vielen Dank für das Gespräch. Wir wünschen dir viel Glück und sind sehr gespannt, wie es mit der Umsetzung des Tarifvertrags weiter geht.

Du arbeitest ebenfalls in einem Krankenhaus und möchtest aktiv werden? Hier geht’s lang!

One thought on “Wie die Waldkliniken Eisenberg zu einem der wohl modernsten Tarifverträge kamen …

  • 9. Oktober 2023 um 16:10
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    Ein spannendes Interview! Glückwunsch an den Verhandlungsführer Bernd Becker und Glückwunsch an die Beschäftigten. Thüringen als Vorbild, das gefällt mir. Niko St.

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