Dienstag, ein sonniger Spätsommermorgen. Der dritte Tag des ver.di-Bundeskongresses beginnt pünktlich um neun Uhr morgens im großen Saal (ohne Tageslicht) mit einem „großen“ Programmpunkt. Der frisch gewählte Bundesvorsitzende hält im Auditorium seine Grundsatzrede. Frank hat offensichtlich keine Probleme mit der Uhrzeit: Kämpferisch stellt er die großen Leitlinien unserer Gewerkschaft für die kommenden Jahre vor.

Ausgangspunkt seiner Rede ist das Kongress-Motto „Morgen braucht uns“. Seine Anforderung an „Morgen“: ein moderner Sozialstaat, der für die Menschen da ist. Und es ist Aufgabe der Politik, für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen. Seine Schwerpunkte liegen auf der sozial gerechten Ausgestaltung der Klimapolitik, dem Einsatz von künstlicher Intelligenz, Demografie sowie der Steuer-, Haushalts- und Rentenpolitik.

Er mahnt an, dass Klimaschutz, sprich der Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, höchste Priorität haben muss. Daraus resultierende Preissteigerungen müssen aber sozialverträglich abgefedert werden. Konkret und sofort umsetzbar: die Verlängerung der Energiepreisbremsen für Strom und Gas. Ein großes politisches Desaster wäre ein Scheitern des Deutschlandtickets, weil Bund und Länder sich nicht über die Finanzierung einigen können. Im Gegenteil muss für die sozial-ökologische Wende noch viel mehr Geld in den ÖPNV investiert werden. Das Bündnis mit Fridays for Future, den Umwelt- und Sozialverbänden und den sozialen Bewegungen soll noch mehr zu einer breiten gesellschaftlichen Bewegung werden, das die Politik nicht ignorieren kann.

Foto: KAY HERSCHELMANN

Zum Thema künstliche Intelligenz fordert er eine erzwingbare Mitbestimmung darüber, wann und wie sie in Betrieben eingesetzt wird. Wir fordern auch ein digitales Zugangsrecht für Gewerkschaften in Betriebe und Dienststellen. Und: Durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz erwirtschaftete Produktivitätsfortschritte müssen sich auch für die Beschäftigten auszahlen. Deswegen bringt Frank eine KI-Dividende zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen ins Spiel.

Die gesetzliche Rentenversicherung muss reformiert werden, hin zu einer Erwerbstätigenversicherung, in die auch weitere Einkommensarten einbezogen werden. Die Schuldenbremse muss weg. Bildung, Gesundheit, Wohnen und Verkehrswende benötigten in den kommenden Jahren deutlich mehr Investitionen. Und das Stichwort Umverteilung: Spitzenverdiener, Vermögende und finanzstarke Unternehmen müssen endlich besteuert werden. Mehr zur Rede.

Und weil wir ver.di sind, gibt es nach Franks Rede wieder Redebeiträge: Unsere Mitglieder kommentieren oder ergänzen die Positionen des Vorsitzenden.

Kevin ist Archivar beim Kreisarchiv Nordwestmecklenburg, ver.di-Aktiver und Personalratsvorsitzender. Er ist zum ersten Mal beim Bundeskongress als Delegierter dabei und berichtet von seinen Eindrücken:

„Ich freue mich sehr, dass wir bei der Antragsdebatte angelangt sind. Das Grundsatzreferat und der Leitantrag  zu Block A „Gute Arbeit und gute Dienstleitungen – betrieblich, tariflich und politisch gestalten“ bildeten den Schwerpunkt des dritten Kongresstages. Durch die verschiedenen und vielfältigen Anträgen debattieren wir die verschiedensten Themenbereiche und gestalten so die Zukunft von ver.di.  Abgerundet wurde der Tag von der gemeinsamen Abendveranstaltung „Feierabend“. Dort konnten bei kühlen Getränken, leckerem Essen und bester Musik tolle Gespräche geführt werden.“ 

Antragsberatung zum Themenbereich „Gute Arbeit“
Foto: KAY HERSCHELMANN

Nach dem Mittagessen wird über die Anträge beraten. Was bedeutet das eigentlich? – Im Vorfeld des Kongresses gehen viele ähnliche Anträge ein, die inhaltliche Überschneidungen haben. Diese werden – ebenfalls bereits vorab – von der Antragskommission zu Clustern zusammengefasst – zu Leitanträgen, über die die Delegierten am Ende entscheiden werden.

Einzelne Delegierte haben Änderungen zu den Leitanträgen eingereicht und dazu haben sie ein Rederecht. Die Antragskommission gibt im Voraus Empfehlungen bestimmten Änderungen zuzustimmen oder nicht. Die Delegierten entscheiden nach den Debatten per Abstimmung, ob sie sich dieser Empfehlung anschließen wollen oder eben nicht.

Dieses Vorgehen ist durchaus mit Emotionen behaftet. Am Leitantrag „D 001 – Digitalisierung für Gemeinwohl und mitbestimmte Gute Arbeit„, der unter anderem das Thema Home Office behandelt, scheiden sich die Geister, ob auch Auszubildende davon erfasst werden sollen. JA, sagt die ver.di-Jugend. Im aktuellen Antrag ist „Home Office in der Ausbildung“ aber nicht vorgesehen. 

„Ausbildung gehört grundsätzlich in den Betrieb“, sagten vorwiegend ältere Kolleg*innen. Die Vertreter*innen der ver.di-Jugend im Raum verstehen das Recht auf Home Office als Teil einer modernen Ausbildung. Verschiedene Tarifrebell*innen versuchen in Redebeiträgen, das Plenum für sich zu gewinnen. Obwohl dem Änderungsantrag der Jugend am Ende per Votum nicht stattgegeben wird, bleibt der Ton immer respektvoll und Mehrheitsentscheidungen werden akzeptiert. So geht Gewerkschaftsarbeit!

Das internationale Panel: Ukraine und Gräfenhausen
V.l.n.r.: Livia Spera (Generalsekretärin der ETF, der Europäischen Transportarbeiter-Förderation), Valeriy Matov (Präsident von Atomprofspilka, Ukraine, Gewerkschaft der Atomkraftwerksbeschäftigten), Moderator Mirko Herberg (FES), Christy Hoffman (Generalsekretärin von UNI Global) und Willem Goudriaan (Generalsekretär des EGÖD, des Europäischen Gewerkschaftsverbands für die öffentlichen Dienste)
Foto: KAY HERSCHELMANN

Zum Abschluss des Tages gibt es im Auditorium eine Gesprächsrunde mit internationalen Gewerkschafter*innen, die über die Herausforderungen internationaler Gewerkschaftsarbeit sprechen.

Bewegende Momente: Valeriy Matov, Präsident der ukrainischen Gewerkschaft der Atomkraftwerksbeschäftigten Atomprofspilka, erzählt von der Situation seiner Gewerkschaft und den Mitgliedern im russischen Angriffskrieg. Das gesamte Vermögen seiner Gewerkschaft fließt in die Unterstützung der Mitglieder. So hat die Gewerkschaft bei der Evakuierung von 9.000 Beschäftigten samt ihren Familien aus einem besetzen Atomkraftwerk unterstützt. Die Hilfe der internationalen Gewerkschaften war dabei von unschätzbarem Wert. Er bittet uns weiterhin um unsere Unterstützung.

Christy Hoffman, Generalsekretärin der internationalen Gewerkschaftsförderation UNI Global, ergänzt, wie die Bündnispartner von Warschau aus Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine organisiert haben. Außerdem führt die Organisation bereits Gespräche über den Wiederaufbau der Ukraine.

Jan Willem Goudriaan, seines Zeichens Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsverbands für die öffentlichen Dienste, berichtet, wie Gewerkschafter*innen in Belarus unterdrückt und ins Gefängnis geworfen werden. Auch hier werden die Familien durch die Gewerkschaften unterstützt. Hier gibt’s die ganze Diskussion.

Trucker-Streiks: Eskalation am Rastplatz Gräfenhausen
: Foto: KAY HERSCHELMANN

Als der offizielle Teil des Panels beendet ist, steht auf einmal unsere stellvertretende Vorsitzende Andrea Kocsis auf der Bühne, in deren Verantwortung auch der Straßengütertransport fällt. Sie hat dramatische Neuigkeiten zur Situation der LKW-Fahrer in Gräfenhausen. Bereits im Frühjahr 2023 berichteten wir, wie LKW-Fahrer an dem Rastplatz ihre ausstehenden Honorare erkämpften.

Mittlerweile befinden sich auf der Raststätte zehn Fahrer im Hungerstreik. Trauriger Tiefpunkt: ein Suizidversuch, der zum Glück verhindert werden konnte. So verzweifelt ist die Lage der Fahrer*innen aus Ländern wie Weißrussland, Georgien oder Kasachstan, die seit Monaten von ihrem „Arbeitgeber“ um ihre Honorare gebracht werden.

Hier könnt ihr die Trucker unterstützen:
Empfänger*in: KAB Diozösanverband Trier
IBAN: DE 30 3706 0193 3002 3590 05

Wie auch schon in der ersten Streikwelle im Frühjahr ist es der polnische Subunternehmer Mazur, der den Fahrern die ihnen zustehenden Honorare verweigert. Die nicht geregelte Gesetzeslage für Menschen aus Drittländern führt dazu, dass es im Moment kaum Möglichkeiten gibt, die ausstehenden Summen einzuklagen.

Auftraggeber des zwielichtigen Logistikunternehmens sind in Deutschland angesiedelte bekannte Marken wie Schenker, Poco, Audi, Hornbach und viele andere, die immer noch und trotz besseren Wissens um diese kriminellen Praktiken die Dienste des unlauteren Unternehmens in Anspruch nehmen. Mehr zur aktuellen Situation der Fahrer.

Kraftvoll formuliert Andrea unsere Forderungen:

  1. Die Auftraggeber müssen für die Schäden aufkommen.
  2. Dem polnischen Subunternehmer Mazur muss SOFORT die Lizenz entzogen werden.
  3. Das Bundesamt für Ausfuhrkontrolle muss sofort handeln!

Darüber hinaus muss das ganze kriminelle Geschäftsmodell reguliert werden, das über meist osteuropäische Subunternehmer funktioniert, die beinhartes Lohndumping betreiben und jedes Einfallstor nutzen, um die Fahrer*innen um die ihnen zustehenden Mindestlöhne zu bringen.

Foto: KAY HERSCHELMANN

Wir haben eine Solidaritätserklärung auf den Weg gebracht, die ihr unterstützen könnt. Ein absoluter Gänsehaut-Moment, dieses Ende des dritten Tages, als sich die Delegierten erheben und in Sprechchören ihre Solidarität mit den Fahrern äußern: „Hoch die internationale Solidarität!“ So fühlt sich Gewerkschaft an.

Später gibt es für die Delegierten ein Abendprogramm mit Essen, Live-Musik und DJ unter dem sprechenden Namen „Feierabend“.

Folgt dem Kongress auf unserem Live Stream! Seht euch auch unsere täglichen Lunch-Talks um13.45 Uhr auf unserer Facebook-Seite oder auf YouTube an.

Rückblick Tag 1: Auf in die Zukunft!
Rückblick Tag 2: Auf der hellen Seite der Macht
Rückblick Tag 4: Vom Wert, von der Würde und vom Wandel der Arbeit
Rückblick Tag 5: ver.di to the core – Anträge, Anträge, Anträge
Rückblick Tag 6: Volle Pulle Endspurt – der ver.di-Bundeskongress endet emotional

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